radioWissen

Eisen und Feuer - Der Terror der Gruppe Ludwig

Januar 1984. Die Münchner Diskothek »Liverpool« brennt. Ein Attentat der rechtsextremen Terrorzelle »Gruppe Ludwig«, die in Italien schon seit Jahren eine mörderische Spur hinterlässt. Kurz darauf wird in der Nähe des Gardasees ein Brandanschlag vereitelt. Die Polizei nimmt zwei junge Männer fest. Sind sie diese »Gruppe Ludwig«? Von Philip Montasser

Eisen und Feuer - Der Terror der Gruppe Ludwig | Bild: picture alliance / SZ Photo | amw
22 Min. | 21.3.2025

VON: Philip Montasser

Ausstrahlung am 21.3.2025

SHOWNOTES

Credits
Autor dieser Folge: Philip Montasser
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Christopher Mann
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Andrea Bräu

Im Interview:

Martin Maurer, Autor der auf wahren Begebenheiten basierenden Romane "Die Krieger" und "Der Kreis"

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ATMO

Nachts im Münchner Bahnhofsviertel: dumpfe Musik aus verschiedenen Lokalen geht fließend ineinander über, Autoverkehr, Stimmengewirr, in der Ferne eine Straßenbahn.

MUSIK „White mountains“ – (0:35)

ERZÄHLERIN

Das Münchner Bahnhofsviertel. Wie in vielen Städten: eine lebendige und internationale, aber keine wirklich gute Gegend. Egal ob Drogen, Gewalt oder illegale Prostitution – zwischen Pfandleihern und Stripclubs, Wettbüros und Dönerbuden ist Kriminalität nichts Ungewöhnliches. Doch kaum einer weiß, dass an diesem Ort auch ein rechtsextremer Terroranschlag verübt wurde. Eine Frau starb. Sieben weitere Menschen wurden verletzt. Die Tat ist mehr als vierzig Jahre her. Und wirft bis heute Fragen auf.

ATMO / ZSP 01

Raunende Menschenansammlung. Krähen in der Ferne. Reifen auf nassem Asphalt.

ERZÄHLERIN

Ein Sonntagmorgen im Januar 2024. Normalerweise wäre das Viertel wie ausgestorben. Doch in der Schillerstraße hat sich eine kleine Menschenmenge zusammengefunden, der Kälte und Schneeregen nichts auszumachen scheint. Manche haben Schirme aufgespannt. Bei anderen sammelt sich der nasse Schnee auf Mützen, Hüten und Kapuzen.

ZSP 02: Vertreterin Omas gegen Rechts

Ja, wir sind Omas gegen Rechts. […] Erinnerungsarbeit ist für uns natürlich ein wichtiges Thema.

ZSP 03: Vertreter Südtiroler Gewerkschaftsbund

Wir sind Vertreter des Südtiroler Gewerkschaftsbundes und der Gewerkschaftsorganisation CISL von Trentino. […] Und da die Täter, Italiener waren, italienische Neofaschisten waren, wollten wir auch ein Zeichen setzen und hier sein.

ERZÄHLERIN

Graue Häuser, grauer Himmel. Ein krasser Kontrast dazu: drei große Blumenkränze, die auf dem Bürgersteig aufgestellt sind – direkt neben einem Stripclub. Gemäß Leuchtreklame gibt es dort die »Hottest Girls in Town«. Neben der Eingangstür prangt die lebensgroße Abbildung einer Frau in Flammen. Ein paar der Anwesenden stehen daneben und diskutieren.

ZSP 04: Diskussion Teilnehmer Gedenkveranstaltung

Ich bin hier rübergegangen und hab mir das angekuckt hier… Ich hab gedacht, ich glaub’s nicht, ja. Weil das ist wirklich… das ganze Ding ist gestaltet wie ne Feuerhölle. […] Das ist wirklich irre, ich hab’s nicht glauben können…

MUSIK „double agents“ –  (0:40)

ERZÄHLERIN

Vierzig Jahre vorher. In der Schillerstraße 11a befindet sich das »Liverpool«, eine Diskothek der anrüchigeren Sorte. Schilder über dem Eingang versprechen »Film«, »Cabaret«, »Tanz«. Am späteren Abend des 7. Januar 1984 läuft hier ein Pornofilm. Als nächstes steht der Mitternachts-Striptease auf dem Programm. Doch dazu kommt es nicht mehr. Um kurz vor halb zwölf dringen zwei gut angezogene junge Männer mit großen Reisetaschen zur Eingangstür herein. Darin verstaut sind: zwei 20-Liter-Kanister, gefüllt mit Benzin. Die Männer schleudern die Taschen über die Wendeltreppe hinunter ins Kellerlokal. Die Brandsätze explodieren, die Treppe steht sofort in Flammen. Rasend schnell frisst sich das Feuer durch das holzgetäfelte Lokal – und verwandelt das »Liverpool« in eine Feuerhölle.

MUSIK „White mountains“ –  (0:45)

ERZÄHLERIN

14 Gäste und elf Mitarbeiter befinden sich zum Zeitpunkt des Angriffs im »Liverpool«. 25 Menschen, die plötzlich in Lebensgefahr sind. Panik greift um sich. Die meisten Insassen können sich über den Notausgang ins Freie retten. Drei Personen – eine Bardame, eine Tänzerin und ein Gast – flüchten in die Küche, landen dort aber in einer Sackgasse: Das Küchenfenster ist aus Sicherheitsglas. Es lässt sich weder öffnen noch zerschlagen. Aber zurück ins Lokal können sie auch nicht mehr. Die zwanzigjährige Corinna Tartarotti steht zum Zeitpunkt des Anschlags am Zigarettenautomaten direkt neben der Wendeltreppe. Ihr dünnes Seidenkleid fängt sofort Feuer. Ein Zeuge erinnert sich an den Anblick:

ZITATOR ZEITUNGSBERICHTE

Da stand diese junge Frau und brannte wie eine Fackel. 

ERZÄHLERIN

Corinna Tartarotti ist die Einzige, die versucht, durch den Haupteingang zu entkommen. Sie kämpft sich über die brennende Treppe nach oben – und verliert das Bewusstsein, ehe sie es zur Tür hinausschafft. Gerettet wird sie von einem prominenten Nachbarn: Der frühere Fußballnationalspieler Rudi Brunnenmeier, der in der Nähe selbst in ein Nachtlokal betreibt, trägt die Frau nach draußen.

MUSIK „double agents“ – (0:35)

ERZÄHLERIN

Siebzig Männer der Berufsfeuerwehr kämpfen die Flammen nieder. Nicht einmal 90 Minuten wütet der Brand. Doch am Ende ist das »Liverpool« komplett zerstört, vom Interieur bleibt nur verkohlter Schutt. Acht Menschen werden verletzt, darunter auch ein Feuerwehrmann. Am schwersten betroffen ist: die Angestellte Corinna Tartarotti. Sie wird mit lebensgefährlichen Verbrennungen auf die Intensivstation gebracht. Von den Tätern fehlt jede Spur. Doch für die Polizei ist der Fall rasch klar: Rivalitäten im Rotlichtmilieu. Die Münchner Abendzeitung schreibt:

ZITATOR ZEITUNGSBERICHTE

Der Anschlag ist nach Ansicht der Polizei der blutige Höhepunkt des Bandenkriegs der Münchner Unterwelt.

ERZÄHLERIN

Jahrzehnte später wird sich der Berliner Autor Martin Maurer intensiv mit dem Fall befassen. Sein Roman »Die Krieger« aus dem Jahr 2020 handelt vom Anschlag auf das »Liverpool«. Bei der Recherche hat er auch die damalige Situation in München im Detail aufgearbeitet.

ZSP 07: O-TON Martin Maurer

Es war damals eine Zeit, wo es so eine Art Rotlicht-Krieg gab in München, also, da gab es verschiedene Brände, die da gelegt worden sind. Es ging um Standplätze von Prostituierten. Und da hat am Anfang die Polizei logischerweise gesagt, naja, das muss damit irgendwie zu tun haben. Es gab, wie gesagt, überhaupt keinerlei Hinweis auf irgendein politisches, eine politische Komponente bei diesem Anschlag an sich.

ERZÄHLERIN

In den Tagen nach dem Attentat wird eine Belohnung ausgesetzt: 13.000 Mark für alle Hinweise, die zur Ergreifung der Brandstifter führen. Kurz darauf wird der Betrag sogar auf 40.000 Mark erhöht. Doch am Ende ist es kein Zeuge, der den Ermittlungen zum Durchbruch verhilft. Es sind die Täter selbst: Bei einer italienischen Nachrichtenagentur geht ein Bekennerschreiben ein. Und das hat es in sich.

MUSIK „dark addiction“ –  (0:20)

ZITATOR ITALIENISCH (blechern verfremdet)

Rivendichiamo lo spettacolo pirotecnico di Monaco. Al Liverpool non si scopa più. Ferro e fuoco sono la punizione nazista.

ZITATOR VOICEOVER

Wir bekennen uns zum pyrotechnischen Spektakel in München. Im Liverpool wird nicht mehr gefickt. Eisen und Feuer sind die Strafe der Nazis.

ERZÄHLERIN

Die italienischen Behörden erkennen sofort, womit sie es zu tun haben. Es ist das siebte Bekennerschreiben in diesem ganz eigentümlichen Stil: Auf italienisch und in einer runenartigen Schrift verfasst. Im Briefkopf ein Reichsadler mit Hakenkreuz in den Klauen und dem Namen »LUDWIG« über den Flügeln. Und am Ende jeder dieser Briefe die deutsche Losung: »Gott mit uns«. Die Texte strotzen vor schwülstigem Pathos und brachialer Gewaltverherrlichung:

MUSIK „dark addiction“ – (0:40)

ZITATOR ITALIENISCH (blechern verfremdet)

Siamo gli ultimi eredi del nazismo. Il fine della nostra vita è la morte di coloro che tradiscono il vero dio.

ZITATOR VOICEOVER

Wir sind die letzten Erben des Nazismus. Zweck unseres Lebens ist der Tod jener, die den wahren Gott verraten.

ZITATOR ITALIENISCH (blechern verfremdet)

Il potere di Ludwig non ha limiti.

ZITATOR VOICEOVER

Die Macht Ludwigs hat keine Grenzen.

ERZÄHLERIN

Seit 1980 versendet »Ludwig« diese kruden Bekennerschreiben. Die darin beschriebenen Morde reichen zurück bis 1977 – und wurden an verschiedensten Orten in ganz Oberitalien ausgeübt. Es sind monströse Verbrechen, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben – erst die Bekennerbriefe schaffen einen Zusammenhang. Darin erwähnen die Absender das »Gesetz Ludwigs«, einen offenkundig nazistisch-katholischen Moralkodex, gegen den die Opfer nach Ansicht der Terroristen verstoßen haben sollen.

MUSIK „dark addiction“ – (0:45)

ERZÄHLERIN

In Verona verbrennen sie 1977 einen arbeitslosen Sinto in dessen Auto. In Padua erstechen sie 1978 einen schwulen Kellner, 1979 in Venedig einen homosexuellen Drogenabhängigen. 1980 erschlagen sie in Vicenza eine Sexarbeiterin. In Verona zünden sie 1981 einen schlafenden Studenten an, den sie wohl für einen Obdachlosen gehalten haben. 1982 töten sie in Vicenza zwei liberale Mönche mit Hammerschlägen auf den Kopf. 1983 ermorden sie in Trient einen Priester mit einem Maurermeißel und rammen ihm ein Kruzifix ins Genick. Es heißt, er habe einen Jungen sexuell missbraucht. Wenige Monate später verüben sie einen Brandanschlag auf das Mailänder Pornokino »Eros Sexy Center«, bei dem sechs Menschen sterben. Nun also das »Liverpool«? Der erste Anschlag außerhalb Italiens? Die Absender des Bekennerschreibens können Täterwissen vorweisen: Sie nennen im Brief die Seriennummer eines Weckers, der am Tatort gefunden worden ist. 

MUSIK „White mountains“ –  (0:45)

ERZÄHLERIN

Seit Jahren haben in Italien Polizei und Presse gerätselt, wer hinter den grausamen Hinrichtungen steckt. Jetzt nimmt also auch die Münchner Kriminalpolizei die Ermittlungen auf. Vier Beamte des Polizeipräsidiums München, darunter der Leiter der Mordkommission, reisen dafür noch im Januar 1984 nach Mailand. Und natürlich beginnen damit auch in deutschen Zeitungen die Spekulationen. Zum Beispiel in der Abendzeitung:

ZITATOR ZEITUNGSBERICHTE

Ein Phantom? Verrückte? Polit-Gangster? Italiens blutrünstigste Bande mordet seit zwölf Jahren, immer im „Auftrag Gottes“, immer als „Nazi-Rächer“. Bis heute ist unbekannt, wer hinter der Terror-Truppe steht, die Homosexuelle, Padres, Dirnen und Drogensüchtige getötet hat.

ERZÄHLERIN

Unbekannte Täter, ominöse Briefe, symbolträchtige, ja fast ritualhafte Morde. In der zeitgenössischen Berichterstattung schwingt zwischen den Zeilen immer auch eine gewisse Faszination für das Böse und das Mysterium mit. Anfang Februar geht ein Phantombild durch die deutsche Presse. Es soll ein Mitglied der »Gruppe Ludwig« darstellen. Dann: wird es erst mal still in den Medien. Doch vier Wochen später nimmt der Fall eine unerwartete und spektakuläre Wendung. Die Abendzeitung meldet:

ZITATOR ZEITUNGSBERICHTE

Seit Freitagmittag herrscht bei der Sonderkommission „Liverpool“ im Münchner Polizeipräsidium wieder hektische Betriebsamkeit. Ein neuer Brandanschlag auf eine Diskothek in der oberitalienischen Provinz Mantua zeigt direkte Parallelen zu der mörderischen Brandstiftung in der Münchner Sex-Disco „Liverpool“ Anfang Januar.

MUSIK „Mr Flagio“ (0:35)

ERZÄHLERIN

Der 4. März 1984. In der Diskothek „Melamara“ in Castiglione delle Stiviere in der Nähe des Gardasees geht die Post ab: eine ausgelassene Faschingsfeier mit mehr als 300 Jugendlichen. Zunächst bemerkt niemand die beiden Männer, die sich als Clowns, als Pierrots verkleidet haben. Über den Notausgang schmuggeln sie zwei große Sporttaschen herein. Darin verborgen: jeweils ein Kanister Benzin, das die Beiden unauffällig im Raum verteilen. Es droht ein Inferno, schlimmer noch als das in München. 

MUSIK „double agents“ –  (0:30)

ERZÄHLERIN

Doch dann riechen einige Gäste das Benzin und schlagen Alarm. Der Pierrot am Haupteingang kann seinen Kanister im Gedränge zwar noch anzünden, bevor geistesgegenwärtige Besucher das brennende Gefäß nach draußen kicken. Sie löschen den Brand und überwältigen die beiden Brandstifter. Die Carabinieri nehmen sie in Gewahrsam. Den 23-jährigen Marco Furlan aus Verona. Und den 24-jährigen Wolfgang Abel aus München.

ERZÄHLERIN

Die Parallelen zum Anschlag auf das »Liverpool« sind offensichtlich. In den folgenden Tagen wird immer mehr über die beiden Terrorverdächtigen bekannt. Wolfgang Abel und Marco Furlan sind Schulfreunde. Beide gelten als eigenbrötlerisch, aber hochintelligent, beide stammen aus gutem Hause. Der in München geborene Abel ist als Kind mit seiner Familie nach Verona gezogen, wo sein Vater die Dependence einer deutschen Versicherungsgesellschaft geleitet hat. Furlans Vater ist Chirurg an einer Veroneser Klinik, ein renommierter Spezialist für Verbrennungen. Zum Zeitpunkt der Verhaftung ist Wolfgang Abel Doktor der Mathematik – seinen Abschluss erhielt er »summa cum laude«. Er arbeitet in München für eine Lebensversicherung. Marco Furlan studiert in Italien Chemie und plant ebenfalls seine Promotion. Nun sitzen Abel und Furlan in Untersuchungshaft in Mantua – und leugnen jede Verbindung zu »Ludwig«. Und der Anschlag auf die Faschingsparty im »Melamara«? Sei nur ein »Scherz« gewesen. Sie hätten lediglich etwas zündeln wollen. Doch in Bezug auf den Münchner »Liverpool«-Anschlag erhärtet sich der Verdacht gegen die beiden. Abels Mutter erkennt den Wecker, den die Attentäter am Tatort zurückgelassen haben. Er habe ihrem Sohn gehört. Außerdem beweisen die Ermittler, dass die beiden Männer zum Tatzeitpunkt in München gewesen sind. Marco Furlan wird als derjenige identifiziert, der die Benzinkanister gekauft haben soll. Und dann macht das Bundeskriminalamt einen Fund, der geradezu unglaublich ist. Bei der Durchsuchung der Gegenstände, die bei der Durchsuchung von Abels Münchner Wohnung gefunden wurden, finden die Beamten: den Durchdruck eines »Ludwig«-Bekennerschreibens. Mithilfe eines Hightech-Geräts machen sie auf dem karierten Papier eines Spiralblocks Abdrücke sichtbar – auch durch mehrere Blätter hindurch. Es ist der komplette Text, verfasst in der üblichen Runen-Schrift, mit dem sich die Terroristen zum Angriff gegen das Mailänder Pornokino »Eros Sexy Center« bekannt haben – dem ersten »Ludwig«-Brandanschlag. Sechs Menschen wurden an jenem 14. Mai 1983 getötet. Wenige Tage später kam der Brief:

MUSIK „dark addiction“ –  (0:30)

ZITATOR ITALIENISCH (blechern verfremdet)

Rivendichiamo il rogo dei cazzi. Una squadra della morte ha giustiziato uomini senza onore irrispetto si della legge di Ludwig…

ZITATOR VOICEOVER

Wir bekennen uns zum Scheiterhaufen der Schwänze. Ein Todeskommando richtete Männer ohne Ehre hin, die das Gesetz Ludwigs missachtet haben…

ERZÄHLERIN

Kurz darauf tauchen bei Furlan ebenfalls Durchdrucke von Bekennerschreiben auf – und eines davon gehört zum Münchner Attentat. Es ist nicht mehr von der Hand zu weisen: Die beiden Inhaftierten stehen in Verbindung mit »Ludwig«. Mittlerweile ist Corinna Tartarotti, die schwerverletzte Angestellte des »Liverpool«, an den Folgen der Verbrennungen gestorben. Ein weiterer Mord, der Abel und Furlan nun angelastet wird. Doch trotz erster Erfolge stocken die Ermittlungen. Der genaue Ablauf der einzelnen Attentate lässt sich immer noch nicht rekonstruieren. In langen, fruchtlosen Verhören versuchen italienische und deutsche Polizisten, weiterführende Informationen aus Abel und Furlan herauszukitzeln. Wenn sie nicht schweigen, beteuern sie ihre Unschuld und behaupten, hereingelegt worden zu sein. Nur den verhinderten Anschlag auf die Diskothek »Melamara« können die Beiden nicht leugnen. Die Ermittler müssen sich die Abläufe der anderen Anschläge mithilfe der Indizien zusammenreimen – und stützen sich zudem auf Zeugenaussagen. Darin geht es immer wieder auch um mögliche weitere Täter. Die italienische Journalistin Monica Zornetta, die 2011 in einem wegweisenden Buch die Geschehnisse um die Gruppe »Ludwig« minutiös nachzeichnet, hatte Zugriff auf die Prozessakten und zitiert daraus den Staatsanwalt:

ZITATOR ITALIENISCH

Almeno nella tentata strage al Melamara, insieme agli imputati ci sarebbe stata un'altra persona rimasta fuori dal processo.

ZITATOR VOICEOVER

Zumindest beim versuchten Massaker beim »Melamara« dürfte es neben den Angeklagten noch eine weitere Person gegeben haben, die sich draußen aufhielt.

ERZÄHLERIN

Er halte es für wahrscheinlich, dass ein dritter Mann existiere, auch wenn man die Wahrheit nie herausfinden werde. Am Ende bleibt nur das Terror-Duo übrig. Obwohl im Zuge der Verhandlungen herauskommt, dass Abel und Furlan schon während der Schulzeit einer religiös angehauchten rechtsradikalen Organisation nahestanden, tritt die politische Dimension der Verbrechen immer weiter in den Hintergrund. Martin Maurer wundert das nicht:

ZSP 09: O-TON Martin Maurer

Man hat sich komplett darauf gestürzt, dass da eben zwei psychisch irgendwie gestörte junge Männer aus gutem Hause eben mit diesen Attributen – er spielt klassische Gitarre, hochintelligent – dass diese zwei nun solche bestialischen Taten gemacht haben. Und das ist natürlich etwas, was, wenn man die Geschichte rechter Gewalt verfolgt, immer wieder passiert. Also man hat immer die verwirrten Einzeltäter in allen möglichen Ausformungen.

ERZÄHLERIN

Psychologen attestieren den beiden Männern schließlich eine »Follia a due« – Das bedeutet: Abel soll sich nach der Lektüre von philosophischen Texten »eine Art fanatischer Ideologie« erdacht haben, bevor er mit »enormem Pathos« und »kämpferischem Fanatismus« seinen Freund Furlan dann in den Wahn mitgerissen hat. Martin Maurer kann dieser These nichts abgewinnen – nicht nur, weil Menschen, die Abel und Furlan näher kannten, eine ganz andere Dynamik beschreiben.

ZSP 10: O-TON Martin Maurer

Verona war damals überschwemmt worden von Heroin. Also man hatte praktisch in der Altstadt Verona das, was man sich heute wirklich schwer nur noch vorstellen kann, wenn man diese wunderbare Stadt sieht, das Zentrum… aber da waren also überall in den Gassen waren die Heroinsüchtigen und die rechte Jugend Veronas hat sich gegen das eigentlich geschlossen gestellt. Ich sag mal, das bürgerliche Verona war einfach rechts, […] das war so und […] da gehörten eben diese beiden auch dazu. 

MUSIK „double agents“ –  (0:32)

ERZÄHLERIN

Im Januar 1987 ist es endlich soweit. Nach fast drei Jahren Untersuchungshaft, in denen die beiden Angeklagten mehrere Selbstmordversuche unternommen haben, gibt es nun ein Urteil. Wolfgang Abel und Marco Furlan werden wegen Mordes in zehn Fällen schuldig gesprochen. Auch an Corinna Tartarotti, die vier Monate nach dem Anschlag auf das »Liverpool« an ihren Verletzungen gestorben ist. Die Strafe: 30 Jahre Gefängnis. Keiner von beiden hat die Taten je gestanden.

In den Jahren danach verschwindet der Fall aus dem kollektiven Gedächtnis. Vor allem in Deutschland gerät die »Gruppe Ludwig« in Vergessenheit. Autor Martin Maurer stößt Jahrzehnte später per Zufall auf einen älteren italienischen Artikel. Die Geschichte elektrisiert ihn und er verarbeitet sie daraufhin in Form eines Romans. Parallel werden vereinzelt Historiker und Aktivisten auf die Terrorserie aufmerksam. Insbesondere die Antisexistische Aktion München sorgt dafür, dass der Anschlag aufs »Liverpool« wieder bekannt wird.

MUSIK „White mountains“ – (0:45)

ERZÄHLERIN

München, den 7. Januar 2025. Zum 41. Jahrestag wird eine Gedenkstele vor dem ehemaligen Liverpool enthüllt. Die italienische Journalistin Monica Zornetta ist für einen Vortrag angereist. Es geht um Fragen, die bei den Ermittlungen offen geblieben sind. Vor allem: Haben Abel und Furlan alleine gehandelt? Oder steckt hinter den Verbrechen ein größeres Netzwerk?

Bis heute herrscht Ungewissheit. Abel und Furlan sind 2009 aus der Haft entlassen worden. In den Jahren danach äußern sie sich kryptisch, widersprüchlich oder gar nicht. Abel ist im Herbst 2024 an den Folgen eines Unfalls verstorben. Doch die Suche nach der Wahrheit geht weiter. Wenige Wochen nach Abels Tod verkündet die Mailänder Staatsanwaltschaft, dass sie die Ermittlungen im Fall »Ludwig« wieder aufgenommen hat.


 

radioWissen | Bild: Getty Images / BR
BAYERN 2

radioWissen

Neueste Episoden