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Die Macht der Erbsünde - Historische Folgen einer Erzählung

Die Bibelgeschichte von Adam und Eva und dem Sündenfall hat unsere Kultur geprägt wie kaum eine zweite,hat sie Antworten geliefert auf Grundfragen des Menschen, hat Denken, Glauben geprägt und die Unterdrückung von Frauen und Indigenen auf den Weg gebracht. Von Thomas Grasberger

Die Macht der Erbsünde - Historische Folgen einer Erzählung | Bild: picture alliance / imageBROKER | Heinz-Dieter Falkenstein
22 Min. | 26.3.2025

VON: Thomas Grasberger

Ausstrahlung am 26.3.2025

SHOWNOTES

Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Stefan Wilkening, Jenny Güzel
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Thomas Morawetz


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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ERZÄHLER

Wenn ein Kind zur Welt kommt und alles gut geht, herrschen Freude und Erleichterung. Die Schmerzen der Geburt, die die Frau durchlitten hat, lassen langsam nach. Die Hebamme prüft, ob alles dran ist am Neugeborenen, ob es selbstständig zu atmen anfängt. Und wenn das Kleine den ersten Schrei ausstößt, ist das Glück der Eltern groß.

Musik 2 "Pink" - Komponist und Ausführende: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'10

ERZÄHLER

An Sünde denkt in einem solchen Augenblick heute wohl kaum jemand. Und nur den Allerwenigsten dürfte beim Anblick eines Säuglings der Heilige Augustinus in den Sinn kommen. Obwohl der einflussreiche Theologe und Kirchenlehrer des vierten und fünften nachchristlichen Jahrhunderts unser Denken im lateinischen Westen maßgeblich geprägt hat. Für Augustinus ist mit der Geburt ein neuer Sünder auf die Bühne des Lebens getreten, weil für ihn jeder Mensch ein Sünder ist – von Anfang an.

Musik 3 "Pink" - Komponist und Ausführende: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'10

ERZÄHLER

Was uns Heutigen höchst eigentümlich erscheinen mag, ja nachgerade absurd, ist eine der zentralen Lehren des christlichen Glaubens, wie Augustinus ihn verstanden hat: Der Mensch komme beladen mit der Erbsünde auf die Welt. Denn die Sündhaftigkeit, so der Kirchenvater, sei wie eine Krankheit, die übertragen werde durch Geschlechtsverkehr. 

Musik 4

The feeling begins - Komponist: Peter Gabriel - Album: Passion: Music For The Last Temptation Of Christ - Länge: 0'50

ERZÄHLER

Schuld an diesem Unheil seien unsere allerersten Vorfahren: Adam und Eva. Sie haben sich dem Mythos zufolge der Ursünde, lateinisch peccatum originale, schuldig gemacht.

Spätestens seit der Engländer Charles Darwin 1859 mit seinem Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten” das grundlegende Werk zur Evolutionsbiologie veröffentlicht hat, wissen wir, dass wir nicht von Paradiesbewohnern abstammen. Trotzdem hat die Erzählung von den zwei sündigen Ureltern unsere abendländische Kultur geprägt wie keine zweite. Sie ist der mächtigste Mythos der Menschheit, schreibt der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt in seinem Buch „The Rise and Fall of Adam and Eve“. 

Musik 5

"Evening Prayer" Komponist und Ausführender: Volker Bertelman - Album: Conclave (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'52

ERZÄHLER

Eine Geschichte, die lange Zeit wortwörtlich als unverbrüchliche Wahrheit verstanden wurde. Die sich bei näherer Betrachtung jedoch als höchst komplexe, vielschichtige Erzählung erweist, in der wichtige Fragen des menschlichen Daseins verhandelt werden: Woher kommen wir? Was macht den Menschen aus? Was ist gut, was böse? Warum gibt es Elend, Leid, Schmerz und Krankheit? Und warum muss der Mensch sterben? Große anthropologische Fragen, die lange Zeit mit dem Sündenfall beantwortet wurden. Adam und Eva haben unser Denken, unseren Glauben und unsere Bilderwelten geprägt. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, Professor an der Berliner Humboldt-Universität, hat sich intensiv mit dem Mythos befasst. Auch wenn wir die Geschichte der Erbsünde heute nur noch als diffuse Metapher wahrnehmen, sagt Bredekamp, hat sie doch über mehr als 2000 Jahre eine ungeheure Wirkung entfaltet. Weil sie Erklärungen liefern konnte für eine menschliche Grunderfahrung.

ZSP 1 Bredekamp Grunderfahrung 0,32

Dass die Welt erstens schön ist und dass sie zweitens zum Tod führt. Und zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der Mensch und dazwischen entwickeln sich beide Möglichkeiten, beide Qualitäten sozusagen: die Entfaltung von Gutem und auch als schön Empfundenem und die Entfaltung von Bösem, von Schmerz und Tod. Und diese Geschichte dieser Bandbreite, diesen beiden Polen gibt die Geschichte von der Erbsünde eine Erklärung und eine Orientierung.

ERZÄHLER

Die Geschichte von Adam und Eva nimmt gerade mal anderthalb Seiten ein und steht ganz am Anfang sowohl der jüdischen Bibel als auch der christlichen. Im 1. Buch Mose des Alten Testaments erschafft Gott die Welt, formt Adam, den ersten Menschen aus Erde und bläst ihm den Lebenshauch ein. Fortan lebt dieser Mensch nackt und unschuldig im Garten Eden. 

Musik 6

"Episode Two" - Album: Sirens (feat. Lisma Project) - Komponist und Ausführender: Michael Riessler - Länge: 0'42

ERZÄHLER

Dort wachsen zwei ganz besondere Bäume:

ZITATORIN:

Ein Baum, dessen Früchte unvergängliches Leben schenken, und einer, dessen Früchte ein Wissen geben, das von Gott unabhängig macht.

ERZÄHLER

Der Aufenthalt in diesem Paradies ist an eine einzige Bedingung geknüpft. Gott sagt zu Adam:

ZITATORIN:

Du darfst von allen Bäumen des Gartens essen, nur nicht von dem Baum, dessen Früchte Wissen geben. Sonst musst du sterben.

ERZÄHLER

Als Gott sah, dass Adam einsam war, ließ er ihn in einen tiefen Schlaf fallen, entnahm eine seiner Rippen und schuf daraus Eva. Die beiden lebten nun gemeinsam im Garten Eden – nackt und unschuldig. 

Musik 7

"Waschung der Toten" - Album: Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Christian Heyne - Länge: 1'02

ERZÄHLER

Bis eines Tages die Schlange auftauchte, das klügste von allen Tieren, die Gott erschaffen hatte. Die Schlange überredet Eva, eine Frucht vom Baum der Erkenntnis zu probieren.

ZITATORIN:

Sobald ihr davon esst, werden Euch die Augen aufgehen, und ihr werdet alles wissen, genau wie Gott. Dann werdet ihr Euer Leben selbst in die Hand nehmen können.

ERZÄHLER

Eva wurde schwach, aß den Apfel und verführte auch Adam dazu. Mit einem Mal erkannten die beiden, dass sie nackt waren. Voller Scham verhüllten sie sich mit Feigenblättern. Als Gott dies sah, war klar: Die beiden hatten vom Baum des Wissens genascht. Sie mussten aus dem Garten Eden verbannt werden, bevor sie sich am Baum der Unsterblichkeit zu schaffen machten.

ERZÄHLER

Vorbei waren die paradiesischen Zeiten. Von nun an mussten Adam und mit ihm alle Männer folgender Generationen ihr täglich Brot mit harter Arbeit verdienen. Eva und alle ihr folgenden Frauen sollten künftig schwere Schmerzen bei der Geburt erleiden. Außerdem musste die Frau dem Mann untergeordnet sein, weil sie ihn zur Sünde verführt hatte.

Musik 8

"Pink" - Komponist und Ausführende: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'20

ERZÄHLER

Das Weib als Verführerin, verantwortlich für das Böse in der Welt! Mit dieser Geschichte beginnt eine frauenfeindliche Tradition, die über Jahrhunderte hinweg gewirkt hat, sagt Ulrike Ernst-Auga, Professorin für Religionswissenschaft an der Humboldt Universität Berlin. Bemerkenswert erscheint der evangelischen Theologin, dass diese Tradition das Ergebnis einer Manipulation ist. Denn in der Frühphase der Bibelentstehung, im ersten Jahrtausend vor Christus, gibt es verschiedene Schöpfungsgeschichten des Menschen nebeneinander. Und von Mann und Frau sei da noch keine Rede gewesen; sondern nur von einem einzigen, geschlechtslosen Menschen: Adám.

ZSP 2 Auga Erdling 0,53

Der Erdling, Adám, gemacht aus Adamáh, der Erde. Es gab hier keine Zwei-Geschlechtlichkeit, sondern alle waren aus dem gleichen Stoff gemacht. Es kam dann zu einer Spaltung im Zuge weiterer Übersetzungen und Übertragungen, insbesondere im Kontext der Entstehung der Septuaginta. Das war also die Übersetzung vom hebräischen Text in das griechische, und bei dieser Übersetzung, das ist so wie bei anderen Übersetzungen auch, entstehen auch neue Bedeutungen. Und diese griechische Bibelübersetzung der Septuaginta hatte ein Interesse daran, diese Geschichte hier erotisierend aufzuladen. Und so entstand aus dem Erdling dann Adam und seine Frau. Das ist also eine spätere Hinzufügung. 

ERZÄHLER

Die Septuaginta entstand ab etwa 250 vor Christus im hellenistischen Judentum. Die patriarchalen Strukturen der Zeit hätten sich bei der Übertragung der Bibel ins Griechische bemerkbar gemacht. 

ZSP 3 Auga Aristoteles 0,31

Dieser Versuch der Konstruktion einer Überlegenheit von männlich über weiblich hat eine Tradition, die sich bei Aristoteles findet. Bei Platon ist es noch nicht so, aber bei Aristoteles, der hat selber schon die Vorstellung einer Überlegenheit der männlichen Seele über die Frau. Die Frau wird als defizitärer Charakter betrachtet. Und dann wird sozusagen diese aristotelische Tradition aufgenommen und das trägt sich bis heute in die Kulturgeschichte durch. 

ERZÄHLER

Eine Konstruktion mit gravierenden Folgen, sagt die feministische Theologin Ernst-Auga. Die geschlechtliche Zweiteilung wird festgeschrieben, wobei der Mann der Frau übergeordnet wird, während letztere gleichzeitig verantwortlich gemacht wird für alle Übel der Welt. Obwohl weder Jesus Christus noch die Autoren der Evangelien im Neuen Testament vom Sündenfall sprechen, entsteht später die theologische Lehre von der „Erbsünde“. In der biblischen Erzählung ist zunächst nur ganz allgemein von der Verderbtheit der Welt die Rede. Allerdings entwickelt der Apostel Paulus, der bedeutendste Missionar des Urchristentums, seine eigene Theologie der Sünde und ein Menschenbild, das zur Grundlage der späteren Erbsündenlehre werden konnte. Durch die Ur-Sünde des Ersten Adam sei die Menschheit dem Tod ausgeliefert. Nur durch Jesus Christus könne sie wieder erlöst werden und teilhaben an der vollkommenen Glückseligkeit. Was die Rolle der Frau angeht, erscheint der Apostel Paulus zwiespältig. Einerseits betont er die Gleichstellung aller Menschen und zeigt durchaus Wertschätzung für eine ganze Reihe von Mitstreiterinnen wie Phoebe oder Lydia. Andererseits sind Zitate überliefert, die von ihm stammen sollen und eine eher ablehnende und rigide Haltung gegenüber Frauen zeigen. Womit sich der Missionar vielleicht nur an seine Umwelt angepasst hat, um seine Botschaft besser unter die Leute bringen zu können.

Musik 9

Titel 03 - Album: Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Chris Heyne - Länge: 1'11

ERZÄHLER

In den Jahrhunderten nach Paulus haben sich bedeutende Kirchenschriftsteller Gedanken darüber gemacht, wie die Sünde vererbt werden kann. Tertullian etwa, der aus Karthago im heutigen Tunesien stammte, war zu Beginn des dritten Jahrhunderts der Ansicht, dass beim Zeugungsakt mit dem männlichen Samen auch die Seele auf das Kind übertragen wird. Ganz anders als dieser sogenannte Generatianismus sieht es die Lehre des Kreatianismus. Sie wurde von Laktantius entwickelt, der ebenfalls aus der römischen Provinz im heutigen Nordafrika stammte. Für Laktantius wird die Seele zum Zeitpunkt der Zeugung von Gott ganz neu erschaffen. Dieser Kreatianismus wurde schließlich zur verbindlichen Lehrmeinung der katholischen Kirche. Und dann war da noch ein weiterer höchst einflussreicher Kirchenvater: Augustinus, geboren im Jahr 354 nach Christus in Thagaste, im heutigen Algerien. Augustinus hing eher dem Kreatianismus an, obwohl der eigentlich nicht recht zu seiner Lehre passte: Denn Augustinus war der Meinung, der Mensch komme schon beladen mit der Erbsünde auf die Welt.

ZSP 4 Auga Augustinus 0,30

Augustinus hatte diese Idee der Erfindung der Erbsünde und das wirkte dann auch bis ins Mittelalter und bis in die Gegenwart nach. Dieses augustinische Erbe setzt sich dann eben auch später durch bei Thomas von Aquin, der gleichzeitig auch Aristoteles aufnimmt. Das heißt, wir haben hier so eine Konstruktion einer verwerflichen Geschichte, die so nachhaltig werden konnte, weil eben entscheidende Personen in der christlichen Theologiegeschichte so nachhaltig wirkten.

ERZÄHLER

Die Erbsündenlehre des Augustinus zementierte also schon im 4. Jahrhundert nach Christus ein frauenfeindliches Weltbild. Obwohl es damals auch andere Stimmen gab. Der Brite Pelagius lehnte das Erbsündenkonzept rundherum ab. Die Sünde des ersten Menschen, sagt er, führe nicht zwangsläufig dazu, dass alle folgenden Menschen auch Sünder werden. Jede und jeder könne ein Leben frei von Sünden wählen.

ZSP 5 Auga Pelagius 0,15

Seine Lehre wurde aber nicht als rechtmäßig betrachtet, sondern die des Augustinus setzte sich durch, und deswegen kam es dann eben zu dieser Vorstellung des sündigen Menschen und der Erbsünde, wie sie geprägt wurde durch Augustinus.

ERZÄHLER

Die Geschichte von Adam und Eva beschäftigte nicht nur Theologen. Auch Künstler interessierten sich schon sehr früh dafür, sagt Horst Bredekamp, vor allem für den „Sündenfall“.

ZSP 6 Bredekamp Anfänge 0,40

Eine der eindrucksvollsten frühen Darstellungen stammt aus der sogenannten Wiener Genesis, wohl aus dem sechsten Jahrhundert, die auf eine sehr eindrucksvolle Weise in drei Szenen nebeneinander, quasi wie in einem Film, ablaufen lässt: die Mahnung, dann den Sündenfall selbst und das sich Verbergen zum Schluss von Adam und Eva in ihrer Reue, nachdem der Sündenfall geschehen ist, also das Essen von der Frucht des Baumes der Erkenntnis. Und dort sind bereits die psychologischen Grundsituationen auf grandiose Weise dargestellt. Eben das Verbot, das Übertreten, aber dann die Reue, die Schuld – das Bewusstsein von Schuld.

ERZÄHLER

Durch das Essen vom Baum der Erkenntnis gewinnt der Mensch an ethischer Urteilskraft und kann fortan Gut und Böse unterscheiden. Aber das ist nicht die einzige Interpretation des Sündenfalls. Das „Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet“ zählt mehrere auf. Zum Beispiel die sexuelle Deutung, die im Geschlechtsverkehr von Adam und Eva die erste Sünde sieht. Oder eine intellektuelle Interpretation, die die Wissbegier und Selbstüberschätzung des Menschen betont. Auch als Akt der Emanzipation des Menschen ist der Sündenfall oft verstanden worden. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp sieht noch eine weitere, eine ästhetische Deutung, die wie ein Akt der Befreiung gewirkt hat. 

Musik 10

"First Day" - Komponist und Ausführender: Volker Bertelman - Album: Conclave (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'54

ERZÄHLER

Die Darstellung des Sündenfalls gab den Künstlern die Möglichkeit, den nackten Körper in seiner ganzen Schönheit zu zeigen.

ZSP 7 Bredekamp Befreiungstat 0,27

Die Nacktheit, welche Adam und Eva nach dem Essen des Apfels erkennen, und mit der Nacktheit die Schönheit und mit der Nacktheit auch die Sexualität, kann durch diese Art Darstellung des Sündenfalls präsentiert werden, ausgereizt werden geradezu. Und so wird der Sündenfall in seinem bösen Charakter zur Lizenz zu etwas Schönem, zu etwas Großartigem, zu einer Befreiungstat.

ERZÄHLER

Biblische Themen dienten oft auch als Alibi für Aktdarstellungen, vor allem vom weiblichen Körper. Der Bildhauer Gislebertus zum Beispiel hat im 12. Jahrhundert am Nordportal der Kathedrale von Autun, im französischen Burgund, eine nackte, liegende Eva geschaffen.

ZSP 8 Bredekamp Verführung 0,13

Es ist die pure Verführung eines Körpers, gar nicht der Apfel, der Körper selbst wird die Verführung. Und diese Verführung... es ist eine einzige Feier des Körpers.

MUSIK 11

"Evening Prayer" - Komponist und Ausführender: Volker Bertelman - Album: Conclave (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'31

ERZÄHLER

Die Geschichte vom Sündenfall bringt also nicht nur Gut und Böse ins menschliche Leben, sondern auch das, was „für die Augen schön“ ist, wie es in der Bibel heißt. Und zu dieser Schönheit gehört eben auch die Sexualität, betont Horst Bredekamp. Bereits in der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts ist das zu sehen auf den Bronzetüren vom Hildesheimer Dom. Auf der sogenannten Bernwardstür, die ursprünglich für die Kirche St. Michael gefertigt wurde, ...

ZSP 9 Bredekamp Erotisierung 0,31

... hat die Eva in der einen Hand, in der rechten einen Apfel, in der linken auch einen Apfel. Und dieser Apfel ist im Grunde ihre rechte Brust. Also über die gesamte mittelalterliche Kunst kann man eine Verbindung von weiblicher Brust und Apfel nehmen und damit eine Erotisierung, die auf den ersten Blick negativ, stigmatisierend wirkt, aber auf den zweiten Blick zeigt, dass die Künstler ein widersinniges Spiel getrieben haben und mit diesem Motiv die Erotik des Körpers geradezu gefeiert haben.

ERZÄHLER

Sie nutzten die Freiheit der Kunst auch, um festgefahrene Positionen aufzuweichen. Zum Beispiel die gängige Lehrmeinung, die sich seit Augustinus unter Theologen verfestigt hatte:

ZSP 10 Bredekamp Eva 0,47

Ja, die Eva ist die ewige Schlange, die Böse, die Verführerin, die dem Mann das Elend und das Grab bringt. Es ist in der Sündenfallgeschichte angelegt, aber die Sündenfallgeschichte ist zu komplex in diesen wenigen Versen, als dass man Eva nun diese alleinige Schuld zusprechen könnte. Denn Eva wehrt sich zunächst gegenüber der Schlange und sagt: Nein, nein, wir dürfen davon nicht essen. Und dann kommt aber die Verführung, unter die Eva selbst gestellt ist, und das ist die Schönheit, die Schönheit, die mit dem Essen des Apfels verbunden ist. Und so ist Eva auch eine hilflose, eine verständlich Verführte, die dann zur Verführerin wird. 

ERZÄHLER

Der Mythos von der Erbsünde hat zahlreiche bedeutende Künstler inspiriert. Hieronymus Bosch, Albrecht Dürer, Peter Paul Rubens, Donatello oder Lucas Cranach den Älteren. Und natürlich Michelangelo, von dem eines der berühmtesten Beispiele aus dem frühen 16. Jahrhundert stammt. „Der Sündenfall“ an der Decke der Sixtinischen Kapelle im Papstpalast zu Rom.

ZSP 11 Bredekamp Michelangelo 0,29

Eva streckt den Arm weit aus nach hinten, sie dreht sich um, bewegt sich auf dem Boden in sitzender Haltung und hat den Kopf nun wenige Zentimeter vom Glied des Mannes, der aufrecht zum Apfel greift. Also Freud würde das eine Fellatio nennen oder die Andeutung davon, womit auf extreme Weise die Sexualisierung, und hier wirklich in neutraler Weise, überhaupt nicht negativ bezeichnet, des Sündenfalls gemalt worden ist.

ERZÄHLER

Zu bewundern ist dieses großartige Kunstwerk wohlgemerkt in einer Kapelle des päpstlichen Palastes. Auf prüdere Gemüter mag der Anblick schockierend gewirkt haben. Ebenso irritierend war für einfache Christenmenschen um 1500 die Entdeckung der amerikanischen Kontinente. Denn plötzlich gerieten mit den Ureinwohnern Amerikas Menschen ins Blickfeld, die so waren wie Gott sie geschaffen hatte, nämlich nackt. Und das offenbar ganz ohne Scham, wie einst Adam und Eva im Paradies. Die hatten erst nach dem Sündenfall Schamgefühle entwickelt und sich aus Feigenblättern einen Lendenschurz gebastelt. Was aber war mit den Ureinwohnern, die gut ohne die Strafe der Scham auskamen? Lebten sie immer noch im Paradies? Oder waren sie etwa gar keine Menschen, wie manche Autoren des 16. Jahrhunderts mutmaßten. Waren diese „nackten Wilden“ nur Kreaturen, die unter den Stand des Menschlichen gesunken waren.

Musik 12

"Pink" - Komponist und Ausführende: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'10

ERZÄHLER

Die Folgen solcher Überlegungen waren Rassismus und millionenfacher Mord an den Indigenen der Neuen Welt. 

Musik 13

"Pink" - Komponist und Ausführende: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'10

ERZÄHLER

Nur vereinzelt gab es auch andere Stimmen. Der Dominikaner Bartolomé de Las Casas etwa vermutete in den neu entdeckten Ländern den verlorenen Garten Eden. Die Eingeborenen dort seien sehr wohl Menschen wie alle anderen auch, ja sogar moralisch überlegen. Das Ideal eines unverdorbenen Naturmenschen also: der „edle Wilde“. Diesen Begriff hat erstmals im späten 16. Jahrhundert der französische Philosoph Michel de Montaigne verwendet – 200 Jahre vor Jean Jacques Rousseau. Doch das waren Ausnahmen. In der Regel wurden Menschen strikt und stereotyp in binäre Systeme eingeteilt: in Christenmenschen und Wilde etwa, oder in Mann und Frau. Daraus folgte eine scheinbar naturgegebene hierarchische Überlegenheit des weißen Mannes; eine Idee die eng verbunden war mit der Idee der Erbsünde. Erst mit Beginn der Aufklärung, schreibt Stephen Greenblatt, vervielfältigten sich die Zweifel an dieser Vorstellung. Zweifel, die sich bald nicht mehr unterdrücken ließen. Unterschwellig wirkt die Idee trotz aufklärerischer Ansätze jedoch weiter – bis in unsere Zeit hinein, sagt die Religionswissenschaftlerin Ulrike Ernst-Auga. Nicht nur in der Erbsündenlehre der katholischen Theologie, auch in protestantischen Theologien, ja selbst in säkularisierten Gesellschaften – bis hin zur Darstellung der Frau als sündige Verführerin in TV-Seifenopern unserer Tage. Besonders wirkmächtig erweist sich die Geschichte der Erbsünde dort, wo sie immer noch wortwörtlich verstanden wird.

ZSP 12 Auga Fundamentalismen 0,26

In fundamentalistischen Verständnissen in allen Religionen, aber auch in säkularen, gibt es immer ein essentialistisches Verständnis, insbesondere auch von Geschlecht, weil die für ihre Konstruktion des Ausschlusses und zur Selbstkonstruktion ein hierarchisches Geschlechterverhältnis brauchen. Und dafür ist diese Lehre der sündigen Frau sozusagen sehr nützlich.

MUSIK 14

The feeling begins - Komponist: Peter Gabriel - Album: Passion: Music For The Last Temptation Of Christ - Länge: 0'22

ERZÄHLER

Über 2000 Jahre alte Texte müssen gedeutet werden. Und einige dieser Interpretationen können heute noch interessante Anregungen liefern. 

Musik 15

"Evening Prayer" - Komponist und Ausführender: Volker Bertelman - Album: Conclave (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'47

ERZÄHLER

Etwa wenn man die Vertreibung aus dem Paradies als Befreiung aus einem Zustand der Unmündigkeit deutet – als emanzipatorischen Akt des Menschen, der zur Selbstständigkeit, Freiheit und Verantwortung für das eigene Leben führt. Oder aber auch als Warnung: Mensch, treibs nicht zu bunt! Wer vom Baum der Erkenntnis nascht, muss gut aufpassen, ob ihm die Speise auch bekommt. Atomwaffen, Gentechnik, das Klonen von Menschen oder Künstliche Intelligenz – so manche Erfindung könnte sich als Hybris herausstellen. Als lebensgefährliche Selbstüberschätzung.

So gesehen kann die kurze, aber vielschichtige Erzählung vom Sündenfall heute noch spannende Denkanstöße liefern. Es lohnt sich also, sie wieder mal zu lesen.


 

radioWissen | Bild: Getty Images / BR
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