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Ab in den Süden! Der Brennerpass und seine Geschichte

Handelsroute und Durchgangsstation war der Brenner von alters her. Bis heute ist der 1370 m hoch gelegene Brenner-Pass eine der wichtigsten Alpen-Transit-Strecken. Bereits in der Bronzezeit soll über den Brenner Bernstein transportiert worden sein, die Römer drangen über den Brennerpass nach Norden vor. Von Gabriele Knetsch

Ab in den Süden!  Der Brennerpass und seine Geschichte | Bild: picture alliance / Wagner | Ulrich Wagner
25 Min. | 26.3.2025

VON: Gabriele Knetsch

Ausstrahlung am 26.3.2025

SHOWNOTES

Credits
Autorin dieser Folge: Gabriele Knetsch
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christoph Jablonka, Friedrich Schloffer
Technik:
Redaktion: Iska Schreglmann

Im Interview:

Dr. Golo Maurer, Kunsthistoriker, Leiter der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte in Rom 
Prof. Margareth Lanzinger, Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien

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Literatur:

Peter Kaspar, Brenner und Brennerbad, Ein ReiseLeseBuch, Würzburg 2019 – umfassende Darstellung der Geschichte des Brennerpasses mit Fokus auf der politischen Fragestellung

Ralf-Peter Märtin, Die Alpen in der Antike – von Ötzi bis zur Völkerwanderung, Frankreich 2017. Historischer Streifzug der Alpengeschichte bis zum frühen Mittelalter.

Katharina Winckler, Die Alpen im Frühmittelalter, die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800, Köln/Weimar 2012. Fundierte und detaillierte historische Darstellung des Alpenraums nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs.

Golo Maurer, Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst, Hamburg 2022. Maurers Goethe-Monographie geht der Frage nach, inwiefern die Sehnsucht nach dem Süden ihn und sein Werk prägte.

Francesco dal Negro, Max Rungg: Postgasthöfe und Stationen an der Brennerstraße, Monographie Südtiroler Landesarchiv über die Entstehung der Infrastruktur an der Brennerstraße.

Johann Wolfgang von Goethe, „Die Italienische Reise, Reclam Verlag.

Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580-1581, Übersetzer Hans Stilett, Die andere Bibliothek, Aufbau Verlag

Cassius Dio: Römische Geschichte, Verlag Artemis und Winkler Zürich.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHER

Dies ist die Geschichte eines Jahrtausende währenden Roadtrips. Würde man auf den Brennerpass aus der Vogelperspektive und im Zeitraffer blicken, so sähen wir ein geschäftiges Kommen und Gehen. 

Von oben betrachtet winzig klein klettern frühe Alpen-Bewohner wie der Ötzi über den Pass. Einige Tausend Jahre später sieht man einen Kelten auf einem Esel, bepackt mit Hallstein-Schwertern nach Süden reiten. Römische Bauexperten verlegen um Christi Geburt Quader für die erste befahrbare Straße - „Per Alpes Raeticas“. Ab dem frühen Mittelalter ziehen Händler mit ihren Saumtieren in beide Richtungen über den Pass, um Wein und Oliven nach Norden und Käse und Wolle nach Süden zu liefern.  Und Ende der 1950er Jahre des letzten Jahrhunderts schiebt sich ein schnaufender VW-Käfer über die alte Brennerstraße - beladen mit einer vierköpfigen Familie, die sich nach Strand-Urlaub in Rimini sehnt.

Musik Sehnsucht

Ein Sehnsuchtsort war der Brennerpass schon immer. Aber zugleich auch nie mehr als eine Durchgangsstation. Und das ist er bis heute, sagt der Kunsthistoriker Dr. Golo Maurer. 

1. Zsp. Golo Maurer, 31.04

Eine Art Niemandsland zwischen zwei Kulturen. (…) Er ist zu einer Art transitorische Bereich geworden, wo man den Norden abschüttelt und sich auf den Süden vorbereitet. Oder wo man, wenn man aus dem Süden kommt, vom Süden Abschied nimmt und den Norden ins Auge fasst. 

SPRECHER

Seinen Erfolg als Jahrtausende alter Übergang über die Alpen verdankt der Brennerpass seiner geographischen Lage im Zentrum der Alpen. Er verbindet den Norden Europas mit dem Süden. Im Vergleich zu den drei anderen wichtigen Alpenpässen - dem Simplonpass, dem Mont Cenis und dem Großen Gotthard - ist der Brenner mit 1370 Höhenmetern der niedrigste.

2. Zsp. Golo Maurer, 29.10

Es gibt ja nicht so viele befahrbare Alpenübergänge, es gibt wahrscheinlich kleinere Passstraßen im Westen und im Osten, die zu befahren anstrengend ist. (…) Und ich glaube, dass diese geografische Situation, dass Deutschland und Italien ja eigentlich auf so auf eine Nord-Süd-Achse liegen und in der Mitte die Berge sind wie so eine Art Grenze von spiegelbildlich entgegengesetzten Ländern. Man kann sagen, aus deutscher Sicht ist Italien das Gegenland, das, wo alles anders ist, und die einzige Trennung zu diesem Gegenland, das sind die Berge.

SPRECHER

Und diese Trennlinie wollen Menschen schon seit Jahrtausenden überwinden. Doch das Image dieses alpinen Zwischenraums zwischen Nord und Süd änderte sich im Lauf der Geschichte. Bevor die Römer die Alpen eroberten und erschlossen – unter anderem dadurch, dass sie die Pässe für Fuhrwerke befahrbar machten - galten ihnen die Alpen-Bewohner als unzivilisiert, wild und roh. So schrieb noch um Christi Geburt der römische Geschichtsschreiber, Titus Livius, die Alpen seien für Menschen eine unüberwindbare Grenze. Römische Schriftsteller überspitzten die Alpenerfahrung gerne und beschrieben schroffe, in die Wolken aufragende Berggipfel, bösartige Bewohner, eiskalte Winde und ewigen Winter. Der römische Historiker Florus behauptete gar, Alpenbewohner benutzten ihre eigenen Kinder als Wurfgeschosse. Die Alpenüberquerung galt in den antiken Schriften als Heldentat.

Musikakzent, verblenden mit Atmo, Marschschritten

Einer dieser sagenumwobenen Helden war der karthagische Feldherr Hannibal. Schon 218 vor Christus zog er mit über 30 afrikanischen Kampfelefanten über die Alpen nach Rom. Eine logistische Meisterleistung. Welchen Pass – oder welche Pässe – er mit seinen Soldaten nahm – ein Großteil ging zu Fuß - das wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Aber den Brenner wahrscheinlich nicht. Denn die Tausende von karthagischen Kämpfern kamen über die Iberische Halbinsel in Richtung Alpen. Da lag ein Übergang in den Westalpen – heute in der Schweiz oder Frankreich - eher auf ihrer Route. Doch Hannibal führte es allen vor Augen: die Alpen waren überquerbar.

Musikakzent

Rund 200 Jahre später machten sich die Römer selbst ans Werk. Kurz vor Christi Geburt eroberten sie den gesamten Alpenraum.  Denn immer wieder griffen Stämme aus den Alpen römische Siedlungen jenseits der Alpen an - zum Beispiel die im Etschtal lebenden Räter. 

ZITATOR 1 (Cassius Dio)

„Die Raeter, die zwischen Norikum und Gallien, nahe den Italien anliegenden tridentinischen Alpen, ihre Wohnsitze haben, unternahmen Einfälle in viele Teile des benachbarten Gallien und schleppten sogar aus Italien Raubgut hinweg. Außerdem belästigten sie die Römer oder auch ihre Bundesgenossen, welche ihr Gebiet durchquerten. …. Deshalb schickte Augustus zunächst den Drusus gegen sie.“

SPRECHER

Das schreibt der um 160 n. Chr. geborene Politiker Cassius Dio in seiner „Römischen Geschichte“, die im Verlag „Artemis und Winkler“ erschienen ist. Wie die Räter die Sache sahen, ist unbekannt. Klar ist: Kaiser Augustus griff zwischen 25 und 14 v. Chr. hart gegen die alpinen Bergvölker durch, um seine „Pax Romana“ zu erreichen: er ließ einen Großteil der waffenfähigen Männer gefangen nehmen, außer Landes bringen und versklavte sie. Im Jahr 7 n. Chr. setzte sich Kaiser Augustus selbst ein Denkmal – mit dem „Alpendenkmal“ in La Turbie, heute Monaco: dieses Ehrenmonument feierte den Sieg über eine Vielzahl von Alpen-Stämmen. Darunter kaum bekannte wie Karner, Salasser oder Noriker.

Atmo Steinarbeiten, Klopfen, Hämmern

Die andere Seite dieser Eroberungsfeldzüge: die Römer legten in den Alpen Städte nach römischem Vorbild an – mit Forum Romanum, Thermen und Tempeln. Sie gliederten die Alpengegenden als Provinzen ins Reich ein, bauten Straßen und sicherten mehrere Pässe ab – darunter: den Brennerpass.

3. Zsp. Margareth Lanzinger, 12.15

In der Römerzeit ist man viel noch mit zweirädrigen Karren gefahren, aber wohl auch mit vierrädrigen. Es gibt zum einen Meilensteine, die überliefert sind, dass sie die auch etwas über den Verlauf aussagen und zum anderen gibt das auch länger schon … archäologische Funde. Wo wir diese Wagenräder deutlich in den Stein eingegraben sehen und auch den Unterbau, also überall, wo diese Römerstraße nicht über felsiges Gelände gelaufen ist. Da, wo man nicht weit in den Untergrund kann, waren das sehr, sehr massiv gebaute Straßen. Und in der Regel auch gepflastert, wo immer es ging.

SPRECHER

Margareth Lanzinger, Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, forscht seit Oktober 2024 mit einem mehrköpfigen Team im Rahmen eines EU-Forschungsprojektes zu Infrastruktur, Handel und Logistik im Alpenraum. 

4. Zsp. Margareth Lanzinger, ca. 3.15

Und da spielt die Brennerstraße, aber eben auch andere Alpenübergänge, der Splügen, Sankt Gotthard, eine große Rolle.

SPRECHER

Die Brenner-Route führte von Verona im Süden, über Sterzing in Südtirol, bis nach Augsburg – römisch: Augusta Vindelicorum. Die Alpen gehörten nun zum Römischen Reich, und durch die Via Raetia – oder Via Claudia Augusta – waren die wichtigsten Wirtschaftszentren im Norden und Süden Europas verbunden. In ihren Grundzügen existiert diese Römerstraße bis heute – ihr Streckenverlauf entspricht aktuell der „Alten Brennerstraße“. Im 18. Jahrhundert ließ die österreichische Kaiserin Maria Theresia die Strecke als ganzjährig befahrbare Straße ausbauen. Die Römer hatten die Pässe in erster Linie aus militärischen Gründen erschlossen, um schnell und sicher ihre Truppen über die Alpen zu verlegen. Ihr Ziel war es, die Kelten im Norden zurückzudrängen. Unüberwindbar waren die Alpen im ersten Jahrhundert nach Christus also längst nicht mehr. Es gab sogar antike Reiseführer, mit Empfehlungen, welche Alpenroute am besten zu nehmen wäre. Die gut ausgebaute Transitstrecke der Römer durch die Alpen war die Basis für einen europäischen Handelsverkehr über viele Jahrhunderte.

5. Zsp. Margareth Lanzinger, ca. 10.00

So um 1300 gibt es wahrscheinlich schon einen ersten Höhepunkt, wo der Warentransit greifbar wird: dass Straßen ausgebessert werden, dass so etwas wie Gasthäuser, Hospize entstehen. Aber wir sehen es eben auch in den Quellen, wenn dann Zollrechte oder Straßenrechte verliehen worden. Also das alles deutet darauf hin, dass es eine Strecke war, die eben ökonomisch einträglich und wichtig geworden ist (…) mit der Zeit im Mittelalter wird eigentlich der Brenner zu der zentralen Nord-Süd-Route durch Europa, kann man sagen, und das ist es im Grunde bis heute auch ein Stück geblieben.

SPRECHER

Folgende Produkte wurden schon zur Römerzeit aus den Alpen in den Süden geliefert:  Marmor aus den alpinen Steinbrüchen, Salz aus Reichenhall, Eisen aus den Erzminen in Tirol, Gold und Bergkristall, aber auch einheimische Erzeugnisse einer Almwirtschaft, die es in den Alpen vermutlich schon seit mehreren Jahrtausenden gibt: Schafwolle und Käse. Schon unter den Römern galt der „caeseus alpinus“ als delikater Luxusartikel, der in Rom sehr gesucht war, genauso wie blonde Perücken, Honig und gepökelter Schinken. Aber der Fernhandel aus Italien brachte auch etwas Luxus nach Nordeuropa: die Römer – und nach dem Zusammenbruch ihres Reiches die Kaufleute der italienischen Fürstentümer - lieferten über die Alpentransitstrecke Olivenöl, Wein und Esskastanien, aber sie brachten auch südländische Lebensart auf die andere Seite der Alpen.

6. Zsp. Margareth Lanzinger, ca. 17.30

Wir sehen da eigentlich auch durchgängig vom Mittelalter an, dass getrocknete Früchte in den Norden transportiert wurden. Aber auch, wo ich etwas überrascht war, relativ große Mengen an Reis, das ist dann im achtzehnten Jahrhundert sichtbar, was im achtzehnten Jahrhundert auch noch einmal deutlicher sichtbar ist, ist die Seide, also die Seidenproduktion nimmt im norditalienischen Raum deutlich zu.

Atmo, Rollende Räder, Musik flott

SPRECHER

War der Brenner unter römischer Herrschaft eher noch ein untergeordneter Pass, so wurde er im Lauf der Jahrhunderte zum Hauptübergang über die Alpen. Um 1430 lief schon 90 Prozent des Fernhandels über den Brenner.  Und der florierte immer weiter, wie Dokumente über verzollte Waren belegen: So wurden im Jahr 1300 etwa 3000 Tonnen, um das Jahr 1500 ca. 5000 Tonnen, im Jahr 1800 etwa 15.000 Tonnen und im Jahr 1907 ca. 85.000 Tonnen über den Brenner transportiert. 

Atmo Autobahn mit Schwerlastern

Und heute? Rollen Jahr für Jahr mehr Autos und Schwertransporter über die Brennerautobahn nach Italien und zurück. Im Jahr 2023 erreichte der Transitverkehr am Brenner einen Höchststand. Mit über 14 Millionen PKWs und LKWs, und über zwei Millionen Sattelschleppern. Andererseits blühte entlang der Brenner-Route in Tirol seit dem Hochmittelalter ein reges Wirtschaftsleben. Eine zentrale Rolle spielten dabei die Wirtshäuser:

7. Zsp. Margareth Lanzinger,  ca. 34.00

Es heißt, man musste die Leute mit Essen mit Trinken versorgen, eine Übernachtungsmöglichkeit bieten, aber eben auch die Pferde versorgen. Da hat man Schmiede gebraucht. Man hat Wagner und Leute gebraucht, die schnell mal was ersetzen konnten, wenn was kaputt war oder reparieren konnten und auch neu bereitstellen konnten.

SPRECHER

Auch für diese Infrastruktur gab es römische Vorläufer. Die Römer gingen dabei generalstabsmäßig vor: sie errichteten Grenzsteine, bauten Zollstationen und legten Wert auf bequeme „Mansiones“: Alle 37 Kilometer musste es zu römischer Zeit entlang der Transitstrecken ein Gasthaus geben. Einige waren durchaus luxuriös, mit beheizten Räumen und warmem Bad. 

Auf den Passhöhen ließen die Römer Heiligtümer errichten. So verehrte man etwa auf dem Großen St. Bernhard den Jupiter Optimus Poeninus, aber auch für Alpengötter gab es an anderer Stelle Tempel. Am Brenner steht noch heute die Valentins-Kirche – dem Heiligen der Reisenden geweiht. Man vermutet, dass auch diese frühmittelalterliche Pfarrkirche ursprünglich ein Passheiligtum war.

Musik

Mehrere Schriftsteller berichten über ihre Reise über den Brenner, 1580 schwärmt der französische Schriftsteller Michel de Montaigne vom Aufenthalt in bequemen Gasthäusern entlang der Brenner-Strecke.

ZITATOR 2: (Michel de Montaigne)

„Und was Gasthäuser anging, so fand er nie eine Gegend, in der sie so dicht gesät und so schön waren; immer waren die Städte, in denen er logiert hatte, mit Lebensmittel und Wein wohlversehen und billiger als andere gewesen.“

SPRECHER

Die Reise in der Postkutsche hoch zum Brenner-Pass schildert Montaigne als spektakulären Abenteuertrip. Man fühlt sich erinnert an den antiken Helden-Epos der Alpenüberquerung.

ZITATOR 2: (Michel de Montaigne)

„Auf der Weiterreise beengte uns der Weg ein wenig und die Felsen rückten uns so dicht auf den Leib, dass für uns und den Fluß kaum genug Platz war und wir in Gefahr gekommen wären, wenn nicht zwischen Fluss und Reisenden eine Schutzmauer aufgerichtet gewesen wäre, (….) Zwar bilden die Berge, die hier an uns herantreten, zumeist wilde Felsmassen, teils zerklüftet und von Wildbächen zerrissen, teils spröde, von welchen unaufhörlich Stücke von unheimlicher Größe in die Tiefe stürzen – ich glaube, dass es hier zur Zeit eines starken Sturmes gefährlich ist.“

SPRECHER

Doch ein paar Zeilen später wundert sich Montaigne, dass diese Gegend „so stark besiedelt ist“ mit „reichen Bauern“ und „schönen Häusern“ in den Städten und oben auf den Ebenen. Eine Erklärung dafür liefert die Forscherin Margareth Lanzinger von der Universität Wien. Bauern, Gastwirte, Adelige und Bischöfe lebten über Generationen hinweg bestens von dem Transit-Business in Tirol.

8. Zsp. Margareth Lanzinger, 34.19

Die Landesfürsten waren auch die, die dann Anfang des vierzehnten Jahrhunderts die Zollstelle am Brenner übertragen bekommen haben. (…) Und dann gab es aber eben noch zwei fürstbischöfliche Territorien, das eine über Brixen und andere Trient. Zum Beispiel Brixen hatte den Zoll von Klausen.  (…)  Das war eine eher eine Bevölkerung, die zu einem großen Teil auch von Landwirtschaft gelebt hat, aber eben auch sehr stark von diesem Transit-Gewerbe, vom Handel, von der Gastwirtschaft, bis zum Handwerk. 

SPRECHER

Tiroler Bauern verdienten sich im Nebenerwerb Geld dazu, weil sie zugleich die Wege ausbesserten. Oder ihre Pferde an Reisende verliehen. Die Gasthäuser heißen heute noch oft „Zur Post“ – weil sie als Zwischenstationen in dem aufkommenden Brief- und Transportwesen genutzt wurden.  Waren mussten nach einer Tagesetappe in einem komplizierten System umgeladen werden, das vor Ort viele Menschen beschäftigte. Zusätzlich profitierte die ganze Gegen von Zöllen und Mautabgaben an vielen Grenzen, die den Transport von Waren zum Unmut der Kaufleute verteuerten. Rund 200 Jahre nach Montaigne, im Jahr 1786, macht sich der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe in der Postkutsche auf den Weg hinauf zum Brennerpass. Für ihn wird die Fahrt nach Rom zu einer Sehnsuchtsreise, die ihn in das Land führen wird, wo die Zitronen blühen. In seiner „Italienischen Reise“ hält Goethe seine Eindrücke fest:

ZITATOR 3 (Goethe)

„Die Sache ist, dass ich wieder Interesse an der Welt nehme, meinen Beobachtungsgeist versuche und prüfe, wie weit es mit meinen Wissenschaften und Kenntnissen geht, ob mein Auge licht, rein und hell ist, wie viel ich in der Geschwindigkeit fassen kann, und ob die Falten, die sich in mein Gemüt geschlagen und gedrückt haben, wieder auszutilgen sind … die Sonne scheint heiß man glaubt man wieder an einen Gott.“

SPRECHER

Mit seiner Sehnsucht, über die Berge in den Süden zu gelangen, war Goethe nicht allein, wenn auch die Motive höchst unterschiedlich waren. Auch plündernde barbarische Stämme nutzten die von den Römern befestigte Passstraße, um ihr Glück – und ihren Reichtum – im Süden zu suchen. Pilger zogen seit dem Mittelalter über den Brenner-Pass, um in Rom für ihr Seelenheil zu beten. 66 deutsche Könige fuhren mit vollem Gepränge und Hofstaat drüber, weil sie sich vom Papst mit Gottes Segen zum Kaiser eines Deutsch-Römischen Reichs krönen lassen wollten. Aber was war die Motivation des damals nicht mehr ganz jungen Dichters? Von „therapeutischem Reisen“ spricht der Kunsthistoriker Golo Maurer in seiner Monographie über Goethe und Italien. 

9. Zsp. Golo Maurer, ca. 19.00

Er betrachtet die italienische Reise ja nicht als die Reise in eine Fremde, sondern als Heimkehr in eine ideelle, immer ersehnte und immer vorgestellte Heimat. Und diese Heimat betritt er ab dem Brenner wieder. Er sagt, es kommt mir wirklich vor, als ob ich hier geboren wäre und nach langem zwangsweisem Aufenthalt im Norden jetzt endlich wieder zurückkehren würde. Und sobald er in Verona ist, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als seine deutschen Kleider in den Koffer zu stecken und sich italienische Kleider zu kaufen. 

SPRECHER

Goethe übernachtet vom 8. auf den 9. September sogar auf dem Brenner-Pass – im Posthaus. Er lobt es als „ein sehr sauberes bequemes Gasthaus“. Goethe wäre gern länger geblieben, um hier auszuruhen und seine Schriften zu ordnen. Doch der Tiroler Wirt schlägt ihm das ab, weil er die Kutsch-Pferde am nächsten Tag für die Ernte braucht. Goethe, immer interessiert an naturwissenschaftlichen Beobachtungen, macht sich am Brenner Gedanken über die Funktion dieses Passes als „Wasserscheide“.  Diese Wasserscheide - für Goethe trennt sie den Norden vom Süden Europas - verläuft just über das Dach seines „sauberen bequemen Gasthauses“. Das Regenwasser fließt auf der einen Seite zum Inn und zur anderen Seite zur Etsch.

ZITATOR 3  (Goethe)

„Von hier fließen die Wasser nach Deutschland und nach Welschland, diesen hoffe ich morgen zu folgen“.

SPRECHER

Das alte Posthaus steht im Ort Brenner heute nicht mehr, nur noch ein hässlicher Nachfolgebau, in das aber das alte Portal noch eingemauert ist.

10. Zsp. Golo Maurer, ca. 5.25

Heute übernachtet da niemand mehr, aber es gibt noch an diesem sogenannten Goethehaus zwei Gedenktafeln, eine von 1904, die ein Goethe-Verein dort hat anbringen lassen, und eine aus der faschistischen Zeit. Und das ist sehr interessant, denn dort lautet die Inschrift sinngemäß, dass ja schon Goethe gesagt habe, dass an diesem Punkt Italien anfängt. Und das ist natürlich vor dem Hintergrund der Annexion von Südtirol ein eine fast sehr perfide Strategie.

SPRECHER

Goethe würde sich vermutlich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, dass ihn ausgerechnet italienische Faschisten als vermeintlichen Kronzeugen für ihre nationalistische Politik heranziehen. Und doch führen Fragen, die Goethe in jener September-Nacht 1786 am Brenner im Gasthaus zur Post im Kopf umgingen, direkt hinein in den bis heute aktuellen Südtirol-Konflikt. Wo beginnt Italien? Ist der Brennerpass eine Grenze? Wenn ja, ist er nur eine geographische, oder auch eine politische Grenze?

11. Zsp. Golo Maurer, 6.25

Österreich ging ja ursprünglich viel weiter nach Süden, über den Brenner hinweg, umfasste das ganze Südtirol mit Bozen als Hauptstadt. Und nach dem Ersten Weltkrieg, eigentlich in den letzten Tagen, als die Waffen schon fast ruhten, sind die Italiener bis an den Brenner vorgerückt und haben dieses Gebiet besetzt. Das wurde dann später vertraglich, wo die Österreicher mehr oder minder zu einer Unterschrift genötigt wurden, Italien zugeschlagen.  (…) Und es gibt natürlich auch heute noch eine rechte bis rechtsradikale Bewegung in Südtirol, die den Leitspruch hat: Südtirol ist nicht Italien und zu zeigen, das ist so eine offene Wunde, die nie ganz verheilt ist.

Italienische Militärmusik

SPRECHER

Durch die Gemeinde Brenner – auf Italienisch „Brennero“ – verlief nun die italienische Staatsgrenze. Allen Hoffnungen der Südtiroler zum Trotz änderte daran auch der Diktator Adolf Hitler nichts – da er seinen Bündnispartner Benito Mussolini nicht verprellen wollte:

12. Zsp. Golo Maurer, 8.14

Hitler hat sich ja mit Mussolini arrangiert. Und auch nach dem Anschluss von Österreich gab es ja ein Abkommen zwischen Hitler und Mussolini, der diese Grenze bestätigt hat.

SPRECHER

Der Brennerpass mag eine Wasserscheide sein, doch weder klimatisch noch historisch erscheint der gesichtslose und meist kühle Ort Brenner als Italien zugehörig. Selbst Goethe trug seine warmen deutschen Kleider noch bis Verona.

Schlussmusik

SPRECHER

Und wofür steht der Ort Brenner – oder „Brennero“? Heute sind die Mieten im Ort die billigsten in ganz Italien. Der Nachfolgerbau von Goethes einst so bequemem Gasthaus wirkt heruntergekommen, heute sind dort Geflüchtete untergebracht. Sie sehnen sich nicht nach dem Süden, sondern nach Norden. Für Europäer hat der Brenner hingegen seine Bedeutung als Grenzort seit dem Schengener Abkommen 1985 verloren. 

Musik verblenden mit Atmo Autobahn

Viel ist hier nicht mehr los. Die meisten Reisenden brausen auf der Brennerautobahn einfach daran vorbei.

13. Zsp. Golo Maurer, ca 4:00

Das ist vielleicht heute dieser Widerspruch, dass dieser Sehnsuchtsort gewissermaßen ein Non Lieu geworden ist. Ein Unort, an dem man eigentlich nur weiter will – entweder in Richtung Norden oder in Richtung Süden.


radioWissen | Bild: Getty Images / BR
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