Streitfall Freundlichkeit - Stärke, Schwäche, Chance?
Freundliche Menschen gelten oft als schwach, naiv, nachgebend. Dabei braucht jeder Mensch und jede Gesellschaft Freundlichkeit ? und zu Verlierern macht diese Eigenschaft den Einzelnen auch nicht. Von Marie Schoeß (BR 2024)
VON: Marie Schoeß
Ausstrahlung am 12.3.2025
SHOWNOTES
Credits
Autorin dieser Folge: Marie Schoeß
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle, Peter Weiß, Katja Amberger
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Claudia Hammond, Journalistin, Dozentin für Psychologie
Prof. Dr. Hans Bernhard Schmid, Professor für Philosophie an der Universität Wien
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Die Lösung - Der Psychologie Podcast von Puls
Was ist da manchmal los in unserem Kopf? Verhaltenstherapeutin Maren Wiechers und Host Verena „Fiebi“ Fiebiger gehen dieser Frage jede Woche auf den Grund. Mit Empathie und Sachverstand sprechen sie über die großen und kleinen Themen der Psychologie, die uns umtreiben: Was macht der Alltagsstress in der Rushhour des Lebens mit uns? Wie ist da mit unserer Persönlichkeit: Bleiben wir ein Leben lang gleich? Wie sehr prägen unsere Eltern uns – und wir damit wiederum unsere Kinder? „Die Lösung“ ist der Psychologiepodcast für alle, die ein wenig Ordnung ins Gefühlschaos bringen wollen. Denn gemeinsam grübeln ist immer besser als alleine. Und klar: Die eine große Lösung gibt es selten – aber jeder Schritt zählt!
ZUM PODCAST
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Beginnen wir mit einer Wette: Wenn Sie heute das Haus verlassen, wenn Sie jetzt gleich einkaufen gehen, zur Arbeit fahren, den Hund spazieren führen, ihre Kinder von der Schule abholen, dann werden Ihnen überall kleine freundliche Taten begegnen.
Hier wird die Tür einen Moment lang aufgehalten, damit noch zwei Fremde durchschlüpfen können. Da hilft jemand der Mutter mit dem Kinderwagen. Oder dort, dort hebt einer dem Sitznachbarn in der U-Bahn den Regenschirm auf, weil der seinen Verlust gar nicht bemerkt hatte.
Ich wette also mit Ihnen: Sobald Sie Ihr Haus verlassen, begegnen Sie der Freundlichkeit!
01 - ZUSPIELUNG Claudia Hammond
OVERVOICE:
Wer einmal anfängt, auf Freundlichkeit zu achten, entdeckt sie immer häufiger. Ich empfehle, es mit Freundlichkeit zu halten, wie einige es mit Vögeln machen, also: Vogelbeobachter zu werden – nur für Freundlichkeit. Psychologische Studien belegen, dass negative Sachen sichtbarer sind: Einen Löwen hinter dir auf der Straße bemerkst du. Aber das Kind, das dir allein folgt, nicht unbedingt. Der Löwe kann dir schließlich gefährlich werden, den musst du sehen. Die negativen Dinge fallen uns also auf, an sie erinnern wir uns. Und in den Nachrichten sehen wir, dass überall auf der Welt schreckliche Dinge passieren. All das lässt uns glauben, dass es in der Welt nur grausam zugeht. Aber das stimmt nicht. Die meisten Leute sind freundlich zueinander.
SPRECHERIN
Keine Sorge: Claudia Hammond ist niemand, der die Augen vor Kriegen und Krisen verschließt. Sie ist Journalistin, geschult darin, kritisch auf die Welt zu blicken. Sie ist aber auch Dozentin für Psychologie und hat als solche Studien gelesen, selbst welche durchgeführt, die belegen, dass Freundlichkeit kein Mythos aus der Antike ist, der in pluralen demokratischen Gesellschaften ausgedient hat. Sondern etwas, das sich gut anfühlt, das – bis heute – zum Zusammenleben unbedingt dazugehört und: den Einzelnen erfolgreich macht.
Denn wenn es einen Mythos in Sachen Freundlichkeit gibt, ist es dieser hier: Wer freundlich ist, kann nur verlieren.
02 - ZUSPIELUNG Claudia Hammond
OVERVOICE:
Es gibt diese Idee, dass man gerade als Chef eher gemein, streng sein muss, weil die Leute sonst nicht richtig arbeiten. Aber Belege gibt es keine dafür: In einer groß-angelegten Studie nahm sich Joe Folkman, ein Psychometriker aus den USA, Feedback-Bögen von über 50.000 Führungskräften vor und fand heraus, dass unsympathische Chefs selten erfolgreich sind. Diejenigen, die gemocht werden, sind dagegen zugleich die effektivsten. Erfolgreich und unsympathisch zu sein: Dafür stehen die Chancen bei 1 zu 2.000.
Musik 1
"00:26" - Künstler und Komponisten: Ólafur Arnalds & Nils Frahm - Album: Trance Frendz - Länge: 1'39
SPRECHERIN:
Dass Freundlichkeit ein so ausschlaggebender Faktor für Erfolg ist – davon gehen sicher die wenigstens aus. Aber die Studie zeigt genau das: Unsympathische Chefs oder Chefs, die sich nicht um ein freundliches Klima in ihrem Unternehmen sorgen, haben bloß eine winzige Chance auf Erfolg. Was nur beweist: Freundlichkeit ist nicht so schlicht, wie sie zu sein scheint, eigentlich ist sie sogar ein ziemlich komplizierter Fall und unser Verhältnis zu ihr ebenfalls. Freundlichkeit prägt unser Leben jeden Tag, entscheidet übers Vorankommen, über Gesundheit und Geborgenheit. Und trotzdem ist umstritten, was genau sie ist, wann sie wem guttut und welche Form freundliches Verhalten konkret annimmt.
Hans Bernhard Schmid ist Professor für Philosophie – ihn interessiert die große Frage, was das eigentlich ist, Freundlichkeit? Ihn interessiert, warum einige Philosophen der Spätmoderne den Menschen als unfreundliches Wesen beschreiben, als konkurrenzgetrieben, egoistisch von Natur aus, und warum gerade ihre Texte so überzeugend waren, dass Freundlichkeit bis heute vielen als etwas Randständiges, fast schon Kurioses gilt. Ihn interessiert, ob es – dieser Vorstellung zum Trotz – gerade die Freundlichkeit ist, die menschliches Leben ausmacht. Und zwar mehr noch als Sprache, Denken, Fühlen. Hans Bernhard Schmid kennt auch die alltäglichen Fallstricke von Freundlichkeit. Schauplatz: Flugzeug, kurz vorm Abheben.
03 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Meine Eltern empfinden es als sehr unfreundlich, wenn man in dem Flugzeug einfach mit dem Finger auf den eigenen Platz weist – da beim Fenster. Und die Leute, die beim Gang schon sitzen, durch den Fingerzeig dazu auffordert, einem Platz zu machen. Meine Eltern beginnen dann ein Gespräch mit den Personen. Ich als häufiger Flieger bin sehr froh, dass nicht viele Menschen auf diese Weise freundlich sind. Denn Freundlichkeit wird sehr schnell zur Aufdringlichkeit.
SPRECHERIN
Hier zeigt sich, was Freundlichkeit in ihrer einfachsten Form ist: Etikette, vergleichbar mit der Höflichkeit. Aber hat es historisch in puncto Höflichkeit klare Normen gegeben, nicht selten aufgeschrieben in Ratgebern, herrscht bei Freundlichkeit Unsicherheit:
MUSIK 3
"Seven Fizzles: III" - Komponist: Barry Guy - Album: Symmetries - Länge: 1'22
SPRECHERIN
Wie viel Freundlichkeit ist angemessen, wann wirke ich aufdringlich, wann abweisend? Das ist immer kontextabhängig und selten selbsterklärend. Claudia Hammond kennt das Problem und die Konsequenz:
04 - ZUSPIELER Claudia Hammond
OVERVOICE:
In der großen Recherche, die ich mit Kollegen an der University of Sussex gemacht habe, dem Freundlichkeits-Test, bei dem 60.000 Menschen teilgenommen haben, war eine Frage: „Was hindert Sie daran, freundlicher zu sein?“ Und 2/3 der Teilnehmer sagten, sie hätten Angst, fehlinterpretiert zu werden. Das war die größte Angst von Menschen in UK und Europa. Die Leute wollten also freundlich sein, wussten aber nicht, ob es falsch rüberkommt. Die Angst, sich peinlich zu machen, hindert uns daran, freundlicher zu sein.
SPRECHERIN
Kennen Sie, oder? Da müht sich ein Fremder ab, Kisten ins Haus zu schleppen, kann Hilfe gut gebrauchen, aber bis Sie sich durchgerungen haben, die Initiative zu ergreifen, bis Sie überzeugt sind, dass das schon nicht aufdringlich wirkt, ist die Situation vorbei. Eine verpasste Chance, sagt Claudia Hammond. Denn eigentlich ist das Risiko, dass spontane Freundlichkeit Grund für Unbehagen ist, gering:
05 - ZUSPIELER Claudia Hammond
OVERVOICE:
Belegt ist, dass wir es lieben, wenn Menschen freundlich sind. In unserem Freundlichkeits-Test haben wir die Teilnehmer gefragt, wie sie sich fühlten, wenn man ihnen freundlich begegnete. Und sie fühlten sich verbundener mit anderen, sie fühlten sich gesehen, haben es genossen. Wir mögen es also, wenn man freundlich zu uns ist, und wir mögen freundliche Menschen. Insofern sollte uns das keine Angst machen.
SPRECHERIN
Alle psychologischen Studien, die Claudia Hammond kennt, belegen: Das Risiko von Freundlichkeit ist minimal. Der Nutzen dagegen enorm – psychische und physische Gesundheit werden von Freundlichkeit derart gestärkt, dass Hammond sie als „Schutzschirm gegen Burnout und Stress“ beschreibt. Die positiven Effekte greifen dabei gerade bei denen, die freundlich handeln. Selbst freundlich zu sein trägt nämlich noch mehr zum Wohlbefinden bei, als Freundlichkeit zu empfangen.
Musik 4
Bobby Laurence Crane Album: Lush Laments for Lazy Mammal - Länge: 0'15
SPRECHERIN
Nur fangen mit dem Nutzen der eigenen Freundlichkeit die philosophischen Fallstricke an – und die spüren nicht bloß spitzfindige Philosophie-Nerds, sondern jede und jeder von uns.
Musik 5
"Friends Theme" Länge: 0'40
SPRECHERIN
Selbst „Friends“, die Kultserie aus den USA, hat dieses philosophische Problem einmal durchgespielt: Phoebe Buffay, diejenige unter den New Yorker Freunden, die sehr freundlich und zugleich eine Spur verrückt ist, Phoebe also will den Beweis antreten, dass sie auf ganz und gar selbstlose Art freundlich sein kann. Und scheitert. Es gelingt ihr einfach nicht, gegen ihren Willen zu helfen, egal, was sie tut, um andere zu unterstützen, egal auf welche Art sie also ihre Freundlichkeit zeigt: Immer genießt sie selbst das Miteinander. Eine Pattsituation, die nicht erst die Popkultur, sondern schon Friedrich Schiller umtrieb:
Musik 6
Bobby Laurence Crane Album: Lush Laments for Lazy Mammal - Länge: 0'15
ZITATOR
Gerne dien ich den Freunden, / doch thu ich es leider mit Neigung, /
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
SPRECHERIN
Wirklich tugendhaft ist nämlich nur, das weiß Phoebe, das parodiert Schiller, wirklich tugendhaft ist nur, wem die eigene Freundlichkeit ein bisschen Kraft kostet. Oder immerhin Überwindung. Ein reiner Akt muss Freundlichkeit sein und ‚rein‘ heißt: ein Akt, der ausschließlich dem anderen dient, nicht der eigenen Lust folgt.
Diesen Floh hat uns Immanuel Kant ins Ohr gesetzt – der sich wiederum auf Aristoteles stützen konnte: Der antike Philosoph hatte sich Gedanken über etwas gemacht, das er „eunoia“ nannte: Mit „kindness“ wird das ins Englische und mit „Wohlwollen“ wurde es lange ins Deutsche übersetzt. Heute würden wir wohl eher von „Freundlichkeit“ sprechen: „Eunoia“ jedenfalls definiert Aristoteles in der Nikomachischen Ethik als eine Gefälligkeit …
Musik 7
Bobby Laurence Crane Album: Lush Laments for Lazy Mammal - Länge: 0'15
ZITATOR
Ohne Gegenleistung und nicht zu dem Zwecke, daß der Wohltäter selbst einen Vorteil daraus hat, sondern der Bedürftige.
SPRECHERIN
Lesen wir das heute, haben wir bewusst oder unbewusst eine reine Tat im Sinne Kants im Kopf. Psychologisch unrealistisch, das wird sich gleich noch zeigen. Aber die Zuspitzung ist auch nicht in Aristoteles’ Sinne:
06 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Aristoteles liegt es fern, etwas Reines im Ethischen zu suchen. Er ist interessiert an den empirischen Bedingungen, die gutes Handeln und zwar dauerhaftes, verlässliches gutes Handeln und den damit verbundenen guten Willen unterstützen.
SPRECHERIN
Heißt: Für Aristoteles wäre Phoebes Pattsituation keine Pattsituation. Aristoteles sah den Menschen als ein geselliges Wesen und – wer in einer Gemeinschaft leben, gut leben will, der hilft eben. Dass der Gebende sich dabei gut fühlt, hätte Aristoteles nicht zusammenzucken lassen. ((Der Gedanke, wie sich der Gebende fühlt, ist bei ihm überhaupt nicht zentral – auch weil die Idee, die eigene Lust stehe dem tugendhaften Handeln permanent im Weg, Aristoteles fremd ist.))
Aber es ist Kants strenge Vorstellung, die sich in unsere Zeit übersetzt hat: Phoebes Selbstversuch ist ein Beweis dafür, die latente Skepsis gegenüber Freundlichkeit ein anderer.
07 - ZUSPIELER Claudia Hammond
Wir sollten uns darüber nicht so viele Gedanken machen, finde ich. Wenn es sich so entwickelt hat, dass Freundlichkeit belohnt wird: Warum sollten wir das bekämpfen? Sex zum Beispiel ist ja auch nützlich im Sinne der Fortpflanzung. Und trotzdem dürfen wir ihn genießen. Warum ist es bei Freundlichkeit anders, was ist falsch daran, von Freundlichkeit zu profitieren?
SPRECHERIN
Das sagt die Psychologin Claudia Hammond und weiß, dass wir kulturell anders geprägt sind:
Musik 8
"Runaway" - Komponist: Ólafur Arnalds - Album: Gimme Shelter - Länge: 0'41
SPRECHERIN
Dass häufig gerade den Menschen mit Misstrauen begegnet wird, die besonders freundlich sind und daraus ganz offensichtlich selbst Genuss ziehen.
Hat der Prominente nicht bloß deshalb eine enorme Summe gespendet, weil es sein Image aufpoliert? Wollte sich dieser junge Mann nicht als Wohltäter aufspielen, als er einem Fremden seine Niere spendete, einfach so, ohne äußeren Anlass? Keine fiktive Reaktion auf Freundlichkeit übrigens, sondern eine aus Claudia Hammonds Erfahrungsschatz, die viel von Kants Vorbehalten erzählt.
Musik 9
"00:26" - Künstler und Komponisten: Ólafur Arnalds & Nils Frahm - Album: Trance Frendz - Länge: 1'19
SPRECHERIN
Nur ist dieses Ideal der reinen Tat papiern, wie die psychologische Forschung mittlerweile weiß. Fakt ist, dass sich Freundlichkeit für beide gut anfühlt, auch für den Gebenden:
08 - ZUSPIELER Claudia Hammond
Gehirnuntersuchungen zeigen, dass das Belohnungszentrum, das aktiviert wird, wenn man zum Beispiel Schokolade oder Geld bekommt, auch aktiviert wird, wenn Leute unter dem Gehirnscanner Geld verschenken. Also: Man kann die Leute befragen, welcher wohltätigen Organisation sie Geld geben würden, oder ob sie ihr Geld lieber behalten würden. Und wenn sie das Geld geben, werden andere Gehirnregionen aktiviert, als wenn sie das Geld behalten. In diesem Sinne belohnt uns das Gehirn also, wenn wir freundlich sind. Und das ergibt Sinn: Menschen hatten Erfolg, weil sie kooperierten. Und insofern ergibt es nur Sinn, dass das Gehirn uns für Freundlichkeit belohnt – weil Freundlichkeit Basis für Beziehungen ist. Was ist eine Beziehung schon anderes als das Einverständnis, freundlich zueinander zu sein?
SPRECHERIN
Claudia Hammond spricht etwas aus, das in der Antike immerhin viele Philosophen unterschrieben hätten. Ein wenig runtergebrochen galt Freundlichkeit lange Zeit als etwas Selbstverständliches, fast schon Natürliches. Oder immerhin als etwas, das man sich aus pragmatischen Gründen antrainieren sollte. Jeder dürfte schließlich selbst mal auf Freundlichkeit angewiesen sein.
Aristoteles hat die „eunoia“, die Freundlichkeit also, oder: den guten Willen, das Wohlwollen, in seiner Nikomachischen Ethik nicht klar definiert. Sie steht bei ihm in der Nähe zu Freundschaft und Liebe. Man könnte die Passage so verstehen, dass „eunoia“ die Tugend ist, die uns im rechten Maß lieben lässt, nicht zu viel, nicht zu wenig. Aber ausdrücklich formuliert Aristoteles das – anders als bei anderen Emotionen – nicht.
Hans Bernhard Schmid glaubt: Sein Schweigen zum Verhältnis zwischen „eunoia“ und der Freundschaft, Liebe hat einen Grund.
09 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Vielleicht ist der Grund der, dass die „eunoia“ eine Stufe tiefer liegt, dass es da um etwas geht, das nicht eigentlich eine Emotion ist, sondern unserem ganzen emotionalen System zugrunde liegt.
SPRECHERIN
Das hieße: „Eunoia“ – die Haltung, die Liebe und Freundschaft beigestellt ist – wäre eine Art Grunddisposition des Menschen, die Beziehung überhaupt erst möglich macht, Grundlage von Sprechen, Denken, Fühlen, von Ethik und letztlich: von Gesellschaft überhaupt.
Bis heute ist das eine Sicht auf die Dinge: Dass Freundlichkeit Voraussetzung ist für jede Form des kooperativen Zusammenlebens. Hans Bernhard Schmid denkt dabei etwa an den US-amerikanischen Verhaltensforscher Michael Tomasello:
10 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Tomasello sagt, um miteinander reden zu können, um überhaupt einen Grund zu haben, sprachliche Zeichen zu verbinden in der Kommunikation, brauchen wir so etwas wie ein wechselseitiges, partnerschaftliches Verhältnis, ein Offensein füreinander und genau das ist die Freundlichkeit.
SPRECHERIN
Freundlichkeit – so verstanden – ist ganz weit weg von Freundlichkeit als Etikette. Stichwort: Gespräche im Flugzeug.
Freundlichkeit wäre – in diesem Sinne – eine grundlegende Offenheit für andere, die es braucht, um Gemeinschaft überhaupt zu wagen.
11 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Tomasello vertritt die Ansicht, dass Freundlichkeit im Grunde das ist, was uns Menschen als Tiere von unseren Verwandten im Tierreich unterscheidet. Es ist das Humanum. Das, was uns zum Menschen macht. Und Freundlichkeit ist in diesem Zusammenhang unsere Fähigkeit, partnerschaftlich, kollegial, freundschaftlich gemeinsame Ziele zu verfolgen. Das sei die Eigenschaft, die Fähigkeit, die es uns erlaubt, Kultur, Sprache, Moralität etc. zu entwickeln.
SPRECHERIN
Nicht wenige Philosophen gehen übrigens die Wette ein, von der am Anfang die Rede war: Sie sehen Freundlichkeit und setzen auf sie, um den Menschen zu beschreiben, verstehen den Menschen als ein im Kern freundliches, kooperatives Wesen.
Musik 10
"Massage" - Album: The Haunted Airman (Soundtrack) - Komponist und Ausführender: 0'35
Jean-Jacques Rousseau ist der wirkmächtigste unter den Optimisten: Er stellt sich den Menschen als einen freundlichen vor – bei seiner Geburt immerhin, bevor er also Gefahr läuft, von einer Gesellschaft verdorben zu werden, die sich gegen Freundlichkeit entschieden hat. Den Naturzustand des Menschen prägt – folgt man Rousseau – gegenseitige Sympathie, eine Neigung zum Mitleiden, zu Anteilnahme, Hilfe, Unterstützung.
Musik 11
"Double-bass Improvised Commentary" - Komponist: Barry Guy - Album: Folio - Länge: 0'41
12 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Auf der anderen Seite gibt es ein anderes und in den vergangenen 100 Jahren wahrscheinlich dominant-gewordenes Konkurrenzmodell von Thomas Hobbes, das den Naturzustand des Menschen sehr, sehr unfreundlich schildert. Nach diesem Modell sind Menschen bewegt von Eigeninteressen, die zu verfolgen sie in Konflikte bringt mit anderen Menschen. Diesen anderen Menschen gegenüber dominiert dann ein Gefühl – und das ist nicht die Sympathie, nicht die Zuneigung, es ist die Furcht.
Musik 12
"Kingston" - Komponist und Ausführender: Dickon Hinchliffe - Album: Yardie (The Original Score) - Länge: 1'26
SPRECHERIN
Als Hobbes seinen Leviathan schreibt – Schlüsseltext des unfreundlichen Menschenbildes –, steht er unmittelbar unter dem Eindruck des englischen Bürgerkrieges. Egoismus, Konkurrenz, Hedonismus sind zentral für den Menschen, so die Hobbes’sche Sicht der Dinge, wobei er das entsprechende Verhalten nicht als Fehler des Einzelnen begreift oder als verunglückte Erziehung, sondern: als menschliche Natur.
Der Radikalität seines Ansatzes wurde oft widersprochen, und doch übersetzten sich verschiedenste Spielarten seiner Gedanken in unsere Zeit: Die Idee vom individuellen Genuss, der nicht Hand in Hand geht mit dem Genuss anderer und sicher nicht die Großzügigkeit, die Sorge für den anderen als Quelle hat. Der persönliche Ehrgeiz, zu dem ein gewisses Konkurrenzdenken eben dazugehört. Die Notwendigkeit, sich abzugrenzen vom anderen, um sich selbst nicht zu verlieren.
13 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Die Entwicklung, die mit Hobbes eingesetzt hat, hat in mancher Hinsicht schon sehr recht gegen Aristoteles. Denn Hobbes hat begonnen, über Soziales nachzudenken aus der Perspektive des Einzelnen. Die Grundprämisse seiner Staatskonstruktion ist, dass der Staat legitimiert sein muss aus der Perspektive des Einzelnen. Und Hobbes hat gesehen, dass die Ziele der Einzelnen nicht notwendigerweise immer harmonieren in Hinblick auf ein konzertiertes oberstes höchstes Gut. Diese Hinwendung zur Perspektive des Einzelnen ist sicher etwas, was wir nicht verlieren wollen, da scheint mir Hobbes völlig recht zu haben, aber ich glaube, dass er einen Fehler macht, wenn er die Freundlichkeit einfach über Bord wirft.
SPRECHERIN
Womit er unser Verhältnis zur Freundlichkeit allerdings nachhaltig geprägt hat – könnte man hinzufügen. Überhaupt haben verschiedene philosophische Traditionen der westlichen Welt Freundlichkeit einen Bärendienst erwiesen. Sie sind es, die – entgegen den psychologischen Studien – dafür sorgen, dass freundliche Menschen heute so oft als eine Spur naiv oder fast schon heilig angesehen werden, jedenfalls nicht als einfach normal-menschlich.
Kant und seine Strenge ist eine Etappe, Hobbes und sein Pessimismus eine andere. Und ebenfalls nicht unbeteiligt ist die Philosophie des Christentums. Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Güte – eigentlich sind alle Schlüsselbegriffe des Christentums ohne Freundlichkeit nicht zu denken. Aber die großen Autoren der christlichen Kirche entwarfen eben auch das Bild eines Menschen, der nur durch Gott zur Liebe findet. Der Mensch ist also – wieder – kein von sich aus freundlicher, sondern einer, der durch Selbstzucht, Selbstopfer dazu diszipliniert wird.
((Jean-Jacques Rousseau spürte dieses Paradox ganz konkret – in den Predigten, mit denen er selbst aufwuchs.
ZITATOR
Das Außerordentlichste … ist …, dass dieser selbe Prediger uns auffordert, unsere Nächsten, das heißt diese ganze Schurkenbande zu lieben, gegen die er uns zuvor mit solchem Grauen erfüllte.))
SPRECHERIN
Claudia Hammond erfährt dieses zwiespältige philosophische Erbe in jeder Studie, die sie durchführt. Und wünscht sich: ein neues Image der Freundlichkeit.
14 - ZUSPIELER Claudia Hammond
OVERVOICE:
Freundlichkeit braucht ein Rebranding. Ich wäre für eine Freundlichkeits-Revolution, ich hätte es gern, dass Freundlichkeit als erstrebenswert und nicht als schwach gilt, dass du stark und freundlich, erfolgreich und freundlich sein kannst. Dass Freundlichkeit Stärke bedeutet.
Musik 13
"00:26" - Künstler und Komponisten: Ólafur Arnalds & Nils Frahm - Album: Trance Frendz - Länge: 0'43
SPRECHERIN
Vielleicht bräuchte es dabei gar keinen neuen Namen für Freundlichkeit. Denn eigentlich steckt in den Begriffen, die wir heute verwenden, das ganze Wissen der Psychologie. Im Englischen hat „kindness“ Karriere gemacht, läuft „friendliness, den Rang ab. kindness“. bindet die Haltung, an „kind“, an die Art oder Gattung Mensch. Während die deutsche "Freundlichkeit" den Freund ganz ins Zentrum rückt.
Es ist dem Menschen gemäß, anderen Menschen ein Freund zu sein – das verraten diese beiden Sprachen im Zusammenspiel.