Nunavut - Land der Inuit
Nunavut heißt "unser Land" in der Sprache der Inuit; 1999 wurde das gleichnamige Territorium eingerichtet: Ein Gebiet sechsmal so groß wie Deutschland im äußersten Norden Kanadas und in direkter Nachbarschaft zu Grönland. Nur gut 40.000 Menschen leben dort in verstreuten Siedlungen und der Hauptstadt Iqaluit, knapp 31.000 von ihnen identifizieren sich als Inuit. Von Renate Ell (BR 2024)
VON: Renate Ell
Ausstrahlung am 21.3.2025
SHOWNOTES
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Ell
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Caroline Ebner, Andreas Neumann, Friedrich Schloffer
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dennis Patterson, bis 30.12.2023 Senator für Nunavut, zuvor u.a. Premier der Northwest Territories;
Alexina Kublu, Dozentin für Inuktitut und Inuit-Kultur, Übersetzerin;
P. J. Akeeaguk, Premier von Nunavut
Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren:
Literatur der Inuit - Hart am Rand
JETZT ANHÖREN
Linktipps:
Die Qikiqtani Truth Commission hat einschneidende Entwicklungen in Nunavut im 20. Jh. aufgearbeitet, in ausführlichen Reports berichten Menschen über ihre teils traumatischen Erlebnisse.
EXTERNER LINK | https://www.qtcommission.ca/en
Inuit – Informationen der kanadischen Regierung:
EXTERNER LINK | https://www.rcaanc-cirnac.gc.ca/eng/1100100014187/1534785248701
CBC North – Radio- und TV-Berichte aus Nunavut (Canadian Broadcasting Corporation, öffentlich-rechtlicher Sender):
EXTERNER LINK | https://www.cbc.ca/news/canada/north/topic/Location/Nunavut
Nunatsiaq News – Tageszeitung aus Iqaluit
EXTERNER LINK | https://nunatsiaq.com
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Eine Reise nach Nunavut beginnt im Flugzeug – denn es führt keine Straße dorthin. Und man merkt gleich: Die Reise führt in ein ganz anderes Kanada.
(1. ZUSP.) FLUGZEUG-SICHERHEITSANSAGE
(Inuktitut)
ERZÄHLERIN
Die üblichen Ansagen gibt es nicht nur wie sonst in Kanada auf Englisch und Französisch, sondern auch auf Inuktitut – der dritten Amtssprache in Nunavut – übersetzt: „Unser Land“. Nunavut ist der Versuch, Kultur, Traditionen und Werte eines arktischen Jäger- und Sammler-Volkes mitzunehmen in ein Industrieland des 21. Jahrhunderts. Begonnen hat dieser Versuch 1999, als Nunavut autonom wurde.
Musik 1
"Katuuti" - Ausführende: Alexis Bowles & Guillaume I. Saladin - Komponist: Alexis Bowles - Abum: Made in Igloolik - Länge: 0'53
SPRECHER
Nunavut wurde am 1. April 1999 von den Northwest Territories abgetrennt. Die drei Territorien im Norden Kanadas sind extrem dünn besiedelt, deshalb werden sie zum Teil von der Bundeshauptstadt Ottawa aus verwaltet – anders als die Provinzen, die etwa unseren Bundesländern entsprechen. Obwohl Nunavut fünfeinhalb mal so groß wie Deutschland ist, hat es nur rund 41.000 Einwohner – überwiegend Inuit. Die Einwohner von Nunavut, Nunavummiut genannt, leben in 24 weit verstreuten Siedlungen und der Hauptstadt Iqaluit mit siebeneinhalb-tausend Einwohnern. Alle sind nur mit dem Flugzeug erreichbar – oder, für Gütertransporte, mit dem Schiff.
ERZÄHLERIN
Dennis Patterson könnte man als einen der Väter Nunavuts bezeichnen. Der Jurist aus dem Südwesten Kanadas kam in den 70er-Jahren als Rechtsberater nach Iqaluit, stieg in die Politik ein und setzte sich für die Abtrennung seiner Wahlheimat von den Northwest Territories ein. Vielen Menschen im Westen des riesigen Territoriums mit seinen Städten, intensivem Bergbau und großen Wäldern war die Region in der Arktis ohnehin fremd – und nicht nur das.
(2. ZUSP.) DENNIS PATTERSON
OVERVOICE MÄNNLICH
Nunavut galt als ödes Land. Und als Belastung, wegen der Kosten für die Versorgung dieser abgelegenen, isolierten Gemeinden und der schnell wachsenden Bevölkerung. Deshalb gab es eine Bewegung, die sagte: Lasst sie gehen, dann kommen wir wirtschaftlich besser voran.
ERZÄHLERIN
Damals wusste man noch nichts von den begehrten Rohstoffen, die inzwischen in Nunavut entdeckt wurden. Aber die Menschen im hohen Norden haben bis heute auch ganz andere Beweggründe für ihre Unabhängigkeit.
(3. ZUSP.) DENNIS PATTERSON
OVERVOICE MÄNNLICH
Nunavut wurde vor allem gegründet, um die Sprache und Kultur einer Minderheit zu erhalten. Die Inuit sind eine Minderheit innerhalb der indigenen Bevölkerung Kanadas. Das hat die Sprache sehr gestärkt – in einem Land, in dem indigene Sprachen ums Überleben kämpfen. Inuktitut ist dank Nunavut und anderen Regionen, in denen Inuit leben, bei weitem die stärkste indigene Sprache Kanadas.
MUSIK 2
"Inuuganuuk" - Komponist: Terry Uyarak & Andrew Morrison - Album: Nunarjua Isulinginniani - Ausführender: Terry Uyarak - Länge: 0'26
SPRECHER
Inuktitut gehört zu einer Sprachfamilie, die in der nordamerikanischen Arktis, in Grönland und Teilen Sibiriens verbreitet ist. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde für Inuktitut eine eigene Silbenschrift aus geometrischen Formen entwickelt; es wird aber inzwischen auch in lateinischen Buchstaben geschrieben.
MUSIK 3
"Katuuti" - Ausführende: Alexis Bowles & Guillaume I. Saladin - Komponist: Alexis Bowles - Abum: Made in Igloolik - Länge: 0'33
ERZÄHLERIN
Die Sprache ist weit mehr als ein Verständigungsmittel: Sie transportiert das Selbstbewusstsein der Inuit als eigenständige Kultur. Und eine eigene Art zu kommunizieren: Sehr viele Inuit klingen auch auf Englisch leiser und sanfter als Qallunaat – also „Nicht-Inuit“. Wobei sich das aber zu ändern scheint. Alexina Kublu, eine Inuk aus Nunavut, Dozentin für Inuktitut und Inuit-Kultur, hat es in einem Interview für radioWissen 2008 so beschrieben:
(4. ZUSP.) ALEXINA KUBLU 2008
OVERVOICE WEIBLICH
Würde man in einem Raum zehn Qallunaat in die eine Ecke setzen und zehn Inuit in die andere, würde man nach einer Weile nur noch die Qallunaat hören, weil alle durcheinander reden und jeder versucht, sich Gehör zu verschaffen. Qallunaat haben Angst vor der Stille. Und wenn es doch mal still wird, meint sofort jemand, was sagen zu müssen. Bei den Inuit redet einer, und die anderen nicken oder hören zu. Und wenn eine Person in der Gruppe noch nichts gesagt hat, werden alle sie anschauen. Aber nicht sagen: „Was meinst Du dazu“, sondern einfach still warten, und dann wird die Person anfangen zu sprechen, weil man ihr die Gelegenheit dazu gibt.
ERZÄHLERIN
Das ist bei Älteren immer noch so, sagt sie fünfzehn Jahre später. Auch bei politischen Auseinandersetzungen, etwa im Parlament, geht es ganz anders zu als in der kanadischen Hauptstadt.
(5. ZUSP.) ALEXINA KUBLU OVERVOICE WEIBLICH
Wenn im kanadischen Parlament jemand spricht, dann hören manche Leute gar nicht zu oder sie reden untereinander! Im Parlament in Iqaluit redet eine Person und alle anderen hören zu.
On TV you watch the parliament of Canada. There'll be one person talking and there are people around who are not paying attention but talking to each other. Whereas in the legislative assembly in Iqaluit you have the one person talking and everybody is listening.
ERZÄHLERIN
In der jüngeren Generation scheint sich das allerdings zu ändern, hat Alexina Kublu beobachtet. Sie sind lauter.
(6. ZUSP.) ALEXINA KUBLU OVERVOICE WEIBLICH
Wenn Jugendliche mit 12, 13, 14 zusammen sind, achten sie nicht auf die anderen (yap yap yap yap yap).
ERZÄHLERIN
Und das, obwohl die Jugendlichen in diesem Alter selbst in der Schule kaum Englisch sprechen.
(7. ZUSP.) ALEXINA KUBLU OVERVOICE WEIBLICH
Bis zur fünften, sechsten Klasse wird mehr Inuktitut gesprochen, danach immer mehr Englisch; in der High-School dann überwiegend Englisch.
ERZÄHLERIN
Zwar gibt es heute in jedem Ort eine Schule bis zur 12. Klasse – aber viele Jugendliche gehen früher ab und lernen nicht gut Englisch. Sie sind in Krankenhäusern oder Behörden auf Übersetzer angewiesen. Dort arbeiten viele Menschen aus dem Süden, weil immer noch zu wenige Inuit studiert haben.
Die meisten älteren Inuit hingegen sprechen sehr gut Englisch – es sind die Menschen, die bis in die 1960er-Jahre hinein geboren wurden und eine Entwicklung erlebten, die anderswo Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende dauerte.
(8. ZUSP.) ALEXINA KUBLU OVERVOICE WEIBLICH
Mein Bruder zum Beispiel, geboren 1963 in einem „Qarma“, eine Hütte aus Steinen und Grassoden. Jetzt sitzt er im Büro vor dem Computer: von der Steinzeit ins Computerzeitalter.
Musik 4
"BROODING" - ALBUM: BLOOD (ORIGINAL MOTION PICTURE SOUNDTRACK) - KOMPONIST UND AUSFÜHRENDER: DANIEL PEMBERTON - LÄNGE: 0'57
ERZÄHLERIN
Inuit wie die Familie Kublu waren Jäger und Sammler. Manche hatten vielleicht Schusswaffen oder Kochtöpfe aus Metall – statt der althergebrachten „Qullik“, einer Schale aus Stein. Aber sie lebten ansonsten ganz traditionell in kleinen Gruppen an wechselnden Orten, je nach Jahreszeit. Ab Ende der 1950er-Jahr wurden in ersten Siedlungen Grundschulen eingerichtet, Kinder aus den nomadischen Familien wohnten dort zunächst in kleinen Herbergen. Später mussten Familien mit schulpflichtigen Kindern in den Siedlungen leben – so wie die Familie Kublu Mitte der 60er-Jahre mit Alexinas jüngerem Bruder. Sie selbst, geboren 1954, gehörte noch zu den Kindern, die von der kanadischen Schulbehörde schon mit fünf, sechs Jahren in ein Internat gebracht wurden.
MUSIK 5
"Duos of the past"- Komponist: Peter Scherer - Album: Passare - Länge: 0'39
ERZÄHLERIN
Die Kinder wurden in eine völlig fremde Welt katapultiert. Die Unterrichts-sprache: Englisch, das sie nicht konnten. Die Schulbücher aus dem Süden: mit Bildern von Kleinfamilien in hübschen Städtchen, von Schulbussen, Autos, Bäumen, Getreidefeldern. Nichts davon kannten die Kinder aus ihrer Realität. Unter diesen verstörenden Umständen zu lernen, zu leben war ein Kraftakt. Noch dazu: Ohne Kontakt zur Familie, außer für zwei Monate im Sommer.
(9. ZUSP.) ALEXINA KUBLU OVERVOICE WEIBLICH
Das war, als wäre man bei der Lieblingstante, dem Lieblingsonkel. Eine liebevolle Beziehung, aber nicht die Nähe, wie sie Eltern und Kinder vor der Schule hatten. Während des Sommers fanden wir zwar zurück zu einem normalen Familienleben, aber dann mussten wir wieder weg.
ERZÄHLERIN
In einigen Schulen durften die Kinder selbst außerhalb des Unterrichts nur Englisch sprechen. Kleinere Kinder verlernten ihre Muttersprache und konnten sich kaum noch mit den Eltern verständigen – zumal manche nicht mal in den Sommerferien heim gebracht wurden. Manche erlebten Gewalt und sexuelle Übergriffe. Aber selbst ohne solche Erfahrungen, allein durch die Entfremdung während der Schulzeit, entstand ein generationen-übergreifendes Trauma: In Nunavut gibt es Eltern, und inzwischen Großeltern, die in ihrer Kindheit und frühen Jugend kaum erfahren haben, was es heißt, in einer Familie zu leben.
ERZÄHLERIN
Die erschreckend hohe Suizidrate und der verbreitete Alkoholismus werden mit diesem Trauma in Verbindung gebracht. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts gibt es viele Bemühungen, dies alles aufzuarbeiten, zu bewältigen. Und die kanadische Regierung hat sich offiziell für die frühere Schulpolitik entschuldigt.
Von einem Leben als Jäger und Sammler ins 20. Jahrhundert – dieser extreme Wandel hat manche Menschen überfordert. Aber gerade in Nunavut versuchen viele, auch junge Menschen, Tradition und Moderne zu verbinden. Dabei hilft ihnen der Kontakt zu Menschen, die zumindest in ihrer Kindheit noch selbst als Jäger und Sammler gelebt haben. Bis heute haben viele Nunavummiut eine enge Beziehung zur Natur – die den meisten Menschen kahl und unwirtlich erscheint.
MUSIK 6
"Katuuti" - Ausführende: Alexis Bowles & Guillaume I. Saladin - Komponist: Alexis Bowles - Abum: Made in Igloolik - Länge: 0'52
SPRECHER
Nunavut liegt westlich von Grönland und erstreckt sich etwa zwischen dem 60. und dem 82. Breitengrad. Abgesehen von einem kleinen Gebiet im äußersten Südwesten, wo ein paar Bäume wachsen, ist es von Tundra bedeckt: Flechten, Moose, Gräser, niedrige Blütenpflanzen und Arktische Weide, die selten höher wird als 15 Zentimeter. Üblicherweise erreichen die Sommertemperaturen gerade mal 12 Grad – immer häufiger gibt es aber Spitzenwerte über 20 Grad. Im Winter wird es minus 30 Grad kalt. In Nunavut leben Robben, Wale, Schneehühner, Eisbären, Polarfüchse und Karibus, die Rentiere Nordamerikas.
Musik 7:
"Unveiled" - Album: Without Sinking - Komponistin und Ausführende: Hildur Gudnadottir - Länge: 0'30
Erzählerin
Im Sommer mit dem Boot, im Winter mit dem Schneemobil oder dem Hundeschlitten unterwegs zu sein, gehört zum Lebensgefühl. Man ist „on the land“. Ein unübersetzbarer Begriff, keinesfalls „auf dem Land“ – was eine Landschaft mit Feldern und Wäldern bezeichnet. Die Tundra ist tatsächlich unberührte Natur, Wildnis.
MUSIK 8
"Katuuti" - Ausführende: Alexis Bowles & Guillaume I. Saladin - Komponist: Alexis Bowles - Abum: Made in Igloolik - Länge: 0'52
ERZÄHLERIN:
Die traditionelle Ernährung der Inuit, die „on the land“ lebten, bestand vor allem aus Meeressäugern und Karibus, im Sommer auch Fisch und einige Pflanzen; sie enthält gesunde Omega-3-Fettsäuren und alle nötigen Vitamine. Wie die Sprache transportiert dieses heute „country food“ genannte Essen Kultur und Werte der Gemeinschaft, weil Jagdbeute traditionell mit Nachbarn und Freunden geteilt wird. Die Jagd ist in Nunavut kein Freizeitvergnügen, sondern einerseits ein Teil der Tradition, andererseits für viele Menschen eine Notwendigkeit, denn die aus dem Süden importierten Lebensmittel sind extrem teuer. Und manchmal ist die Jagd „on the land“ immer noch überlebenswichtig. Alexina Kublu erzählt von einem Erlebnis, wie sie es deutet:
(10. Zusp.) Alexina Kublu OVERVOICE WEIBLICH
Bei einer Bootstour im Sommer wurden wir vom Eis eingeschlossen, etwa eine Woche steckten wir fest. Weil wir nur kurz unterwegs sein wollten, hatten wir nicht genug gekauftes Essen dabei. Dann kam eine Robbe, sie wurde geschossen und ich meinte: Die Robbe hat gesagt: ihr seid in meinen Gewässern, seid mein Volk, euch gebe ich mich. Als wir das Robben¬fleisch nach ein paar Tagen aufgegessen hatten, kam ein Karibu. Es wurde geschossen, wir hatten wieder Fleisch, und ich meinte: Das Karibu hat gesagt, ihr seid in meinem Land, seid mein Volk, euch gebe ich mich.
MUSIK 9
"BROODING" - ALBUM: BLOOD (ORIGINAL MOTION PICTURE SOUNDTRACK) - KOMPONIST UND AUSFÜHRENDER: DANIEL PEMBERTON - LÄNGE: 0'30
ERZÄHLERIN
Eine spirituelle Beziehung zur Natur ist nicht ungewöhnlich unter Inuit. Und sie gilt auch als eine Art zweite Schule: Schon Jugendliche gehen mit auf die Jagd und lernen von den Älteren dabei auch geduldig zu sein, oder Misserfolge auszuhalten. Vor allem lernen sie dabei Respekt vor der Natur. Traditionell wird nur so viel gejagt, wie man wirklich braucht, und das gesamte Tier verwertet.
Inuit-Jäger konnten mit der Vermarktung von Robbenfellen bis Anfang der 80er-Jahre auch etwas Geld verdienen. Bis in Europa und Nordamerika Bilder von der Jagd auf Jungrobben mit ihrem kuschligen Babypelz in den Fernseh¬nachrichten liefen – brutale Szenen, mit viel Blut auf dem Eis. An dieser Jagd für die Pelzindustrie waren Inuit nicht beteiligt – sie jagen traditionell nur erwachsene Tiere, die viel Fleisch liefern. Greenpeace protestierte zwar ausdrücklich nur gegen die industrialisierte Jagd auf Jungrobben. Aber trotzdem wurde in vielen Ländern der Handel mit sämtlichen Robbenpelzen eingestellt. Ausnahmen für traditionelle Jagd indigener Gruppen, wie in der EU, hatten keine große Wirkung. Der Markt brach ein. Und die Robben¬bestände stiegen an. So stark, dass kanadische Fischer um die Kabeljau-Bestände fürchteten. Dennis Patterson, ehemaliger Senator und in den 90er-Jahren einer der Gründer von Nunavut, sieht aber auch Vorteile
(11. Zusp.) Dennis Patterson OVERVOICE MÄNNLICH
Es gibt sie im Überfluss, sie werden gejagt, gegessen, und die großen Sattelrobben sind ideales Futter für Schlittenhunde – die es jetzt wieder vermehrt gibt, meistens wohl für Touristen. Und wir haben eine wachsende „made in Nunavut“-Mode-Branche. Unsere Designer machen weltweit Eindruck, sie entwerfen traditionelle Kleidung mit modernem Flair. Die ist auch praktisch, ich habe selbst einen Seehundfell-Parka, weil er winddicht ist.
ERZÄHLERIN
Wer bei der Jagd erfolgreich sein will, muss sich „on the land“ gut auskennen. Manches traditionelle Wissen ist heute allerdings nicht mehr zuverlässig – weil sich das Klima in der Arktis noch schneller verändert als in den mittleren Breiten. Der Klimawandel eröffnet den Menschen im Hohen Norden aber auch neue ökonomische Perspektiven.
(12. ZUSP.) DENNIS PATTERSON OVERVOICE MÄNNLICH
Durch die Erwärmung im Süden Kanadas ziehen manche Arten im Meer, darunter die Eismeer-Garnelen, in die kühlere Arktis. Die Garnelen-Fischerei ist ein riesiger und wachsender Wirtschaftszweig in Nord-Kanada und Grönland. Und der Fang von Schwarzem Heilbutt, der in China sehr begehrt und sehr teuer ist. Inuit kaufen jetzt Fischkutter; es gibt eine Organisation, die sie für die Fischerei ausbildet – und sie arbeiten sich dann hoch bis auf die Brücke; noch nicht gleich, aber es entwickelt sich. Die Fischerei ist eine Erfolgsgeschichte mit großem Potenzial.
ERZÄHLERIN
Solche Erfolgsgeschichten braucht Nunavut. Denn es steht vor neuen, großen Aufgaben. Am 18. Januar 2024, knapp 25 Jahre nach der Gründung, feierte Nunavut eine Art zweiten Unabhängigkeitstag.
(13. ZUSP.) DENNIS PATTERSON OVERVOICE MÄNNLICH
Von Anfang an war das Problem, dass der Territorial-Regierung die Erträge aus der Erschließung des Landes vorenthalten wurden. Obwohl sie für die Folgen dieser Erschließung zuständig ist, also für Auswirkungen auf das Gesundheits-, Wohnungs- und Sozialwesen oder die Umwelt.
ERZÄHLERIN
Das zu ändern, war der Territorial-Regierung besonders wichtig, seit in den letzten Jahren in Nunavut neue, begehrte Bodenschätze wie Nickel und Blei entdeckt wurden. Wenn eine Firma diese Schätze heben möchte, muss sie dafür Abgaben zahlen – und die fließen zukünftig in den Haushalt von Nunavut. Damit werden wohl endlich die dringend nötigen Investitionen in den Wohnungsbau möglich. Aber die Regierung von Nunavut muss auch Aufgaben übernehmen, die bisher in der Hand der kanadischen Bundesregierung lagen – vor allem die Entwicklung und Verwaltung der Bergbauprojekte. Für diesen Wandel gibt es eine Übergangsfrist von drei Jahren, ab dem 1. April 2024. Bei der Zeremonie zur Unterzeichnung des Abkommens sagte P. J. Akeeaguk, Premier von Nunavut: Wir sind bereit für diese Herausforderungen. Aber er brachte eben auch zum Ausdruck: Die Erträge aus unseren Ressourcen stehen uns zu!
(14. ZUSP.) P. J. AKEEAGUK (ohne OV)
We did it and we're ready. (Inuktitut) It’s our land, our resources in the hands of our people.
ERZÄHLERIN
Die Entscheidungen, die jetzt mit der neuen Unabhängigkeit, der wirtschaft¬lichen Entwicklung, der Bewältigung von Bildungs- und Wohnraumkrise anstehen – sie werden, wie so vieles in Nunavut, anders angegangen als im Rest Kanadas.
SPRECHER
Nunavut hat eine so genannte Konsens-Regierung. Sie verknüpft Prinzipien der parlamentarischen Demokratie mit indigenen Werten, vor allem: so intensiv wie möglich zusammenzuarbeiten und gemeinsam Rechenschaft abzulegen für alle Entscheidungen. Politische Parteien gibt es nicht; jedes der 22 Parlaments-Mitglieder vertritt einen Wahlkreis. Aus ihrer Mitte wählen die Abgeordneten den oder die Premier und sieben Kabinettsmitglieder. In Nunavut spielen außerdem die „Elder“ eine große Rolle, also „Alte“, deren Rat geschätzt wird. Wobei nicht allein ihr Alter in Jahren zählt, sondern vor allem ihr Wissen und ihre Verwurzelung in den Traditionen. Manche „Elder“ arbeiten in Organisationen oder Gremien, die das öffentliche Leben mitgestalten.
ERZÄHLERIN
Eine Chance für Nunavut, aber im Moment vor allem eine große Heraus-forderung ist, dass hier die jüngste Bevölkerung Kanadas lebt. Rund ein Drittel der Nunavummiut sind unter 14 Jahre alt – doppelt so viele wie im übrigen Kanada. Und Teenagermütter sind keine Seltenheit.
(15. ZUSP.) DENNIS PATTERSON OVERVOICE MÄNNLICH
Langsam wird es besser. Bildung wird das ändern, denn je höher der Bildungsstand, desto eher bekommt jemand erst ein Kind, wenn auch der Unterhalt gesichert ist.
MUSIK 10
"BROODING" - ALBUM: BLOOD (ORIGINAL MOTION PICTURE SOUNDTRACK) - KOMPONIST UND AUSFÜHRENDER: DANIEL PEMBERTON - LÄNGE: 0'59
ERZÄHLERIN
Viele Jugendliche leben allerdings in den oft großen Inuit-Familien sehr beengt, was den Lernerfolg nicht fördert. Denn das starke Bevölkerungs¬wachstum geht einher mit einer dramatischen Wohnungsnot. Die übliche Wohnbebauung besteht aus Holz-Fertighäusern – und manchmal leben mehrere Generationen, zehn oder mehr Menschen, in einem Vierzimmer-Haus. Oder, weil wirklich kein Platz mehr ist, sogar in Zelten oder Holzschuppen. Wohnungsbau ist eines der drängendsten Probleme, das die Regierung von Nunavut lösen muss – denn fast alle Häuser gehören der öffentlichen Hand. Häuser zu bauen ist in der Arktis allerdings besonders schwierig: Erstens gibt es dort kein Material für den Hausbau; alles muss per Schiff aus dem Süden herangeschafft werden. Und zweitens ist der Baugrund Permafrost, also Dauerfrostboden. Ein beheiztes Haus würde ihn auftauen – und im Sommer wird er ohnehin weich.
(16. ZUSP.) DENNIS PATTERSON OVERVOICE MÄNNLICH
Häuser müssen auf Stahlstützen stehen. Die Kosten steigen immens – laut der Nunavut-Hausbau-Gesellschaft auf mehr als 900.000 Dollar für eine einfache Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnung.
ERZÄHLERIN
Das sind mehr als 620-tausend Euro. Aber Nunavut braucht nicht nur mehr Häuser für die jetzige Bevölkerung. Sondern auch für Fachleute, die jetzt vor Ort jene Aufgaben übernehmen, die bisher in der kanadischen Hauptstadt Ottawa erledigt wurden. Viele Menschen werden dafür nach Iqaluit kommen müssen. Denn es fehlt an qualifizierten Einheimischen.
(17. ZUSP.) DENNIS PATTERSON OVERVOICE MÄNNLICH
Leider sind vor allem Inuit arbeitslos. Zwar entwickelt sich eine neue Mittelklasse, bei Schul- und Universitäts-Abschlüssen gibt es einen langsamen Fortschritt. Aber das Bildungssystem ist nicht richtig zweisprachig mit Inuktitut und Englisch, und das ist wohl der Grund dafür, dass viele keinen High-School-Abschluss machen oder gar studieren. Deshalb gibt es nicht genug Inuit, die in der Krankenpflege, als Juristen, Ärztinnen, Geologen, im Finanz-Management oder für die Regierung arbeiten können.
MUSIK 11
"Inuugannuk" - Album: Nunarjua Isulinginniani - Komponist: Terry Uyarak & Andrew Morrison - Ausführender: Länge: 1'02
ERZÄHLERIN
Die Jugend ist da – sie braucht eine Chance, sich zu qualifizieren und ihr Land, Nunavut, selbst in die Zukunft zu führen. Auch um diese gewaltigen Aufgaben zu bewältigen, können sich die Nunavummiut auf traditionelle Werte besinnen. Auf einen Begriff, der Mut macht und Zuversicht gibt: Ajuinnata. Er bedeutet: widerstandsfähig zu sein, dabei innovativ und anpassungsfähig. Auf jeden Fall: nicht aufzugeben, auch in schwierigen Situationen. Mit „ajuinnata“ könnte es den Nunavummiut tatsächlich gelingen, Kultur, Traditionen und Werte eines arktischen Jäger- und Sammler-Volkes zu vereinen mit dem Leben im 21. Jahrhundert.