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Die deutsche Nationalhymne - Ein Lied mit wechselvoller Geschichte

Sie wurde mit Freiheitspathos aufgeladen, für Nationalismus und Kriegspropaganda genutzt, erweitert und gekürzt: Die deutsche Nationalhymne. Sie ist ein Spiegelbild unserer Geschichte der letzten 200 Jahre. Von Christian Schuler

Die deutsche Nationalhymne - Ein Lied mit wechselvoller Geschichte | Bild: picture alliance / ZB | Sascha Steinach
22 Min. | 11.4.2025

VON: Christian Schuler

Ausstrahlung am 11.4.2025

SHOWNOTES

Credits
Autor dieser Folge: Christian Schuler
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Gabi Hinterstoißer, Carsten Fabian
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Katharina Hübel, Karin Becker

Im Interview:

Dr. Jörg Koch, Historiker und Autor


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Linktipps:

Jörg Koch: Die Gedanken sind frei. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Ein Dichterleben. Lau Verlag, Reinbek 2024

Jörg Koch, Einigkeit und Recht und Freiheit. Die Geschichte der deutschen Nationalhymne, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2021

Clemens Escher: "Deutschland, Deutschland, Du mein Alles!" Die Deutschen auf der Suche nach ihrer Nationalhymne 1949-1952, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2017.

Jürgen Zeichner: Einigkeit und Recht und Freiheit – Zur Rezeptionsgeschichte von Text und Melodie des Deutschlandliedes seit 1933, PapyRossa – Hochschulschriften 76, Köln 2

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Erzählerin

Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Deutschland in Schwarz-Rot-Gold. Fähnchen flattern aus Autofenstern, große und kleine Flaggen hängen von Fenstern und Balkonen. Ein Meer von Nationalfarben auf Fanmeilen und in den Stadien. Und aus den Kehlen von zigtausenden Fans erschallt vor dem Anpfiff die deutsche Nationalhymne: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland ...“, mit einer Inbrunst, wie man sie aus England oder Italien kennt, aber bis dahin weder im geteilten noch im wiedervereinigten Deutschland erlebt hat. Das Wort „Patriotismus“ macht die Runde. Zitat: 

Zitator 

Ein fröhlicher Patriotismus, der angemessen ist, andere Länder haben das

auch ... Fröhlicher Patriotismus ist was Gutes. 

Erzählerin 

So äußerte sich der damalige ZDF-Intendant Markus Schächter vor der Presse. Ermunterung kommt auch aus dem Ausland, etwa vom ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger, einem gebürtigen Fürther, der 1938 mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland floh und Folgendes formulierte: Zitat: 

Zitator 

Es ist gut, wenn die Deutschen wieder stolz auf ihr Land sind ... Es wurden schreckliche Dinge gemacht, aber nicht von dieser Generation.

Erzählerin

Eine „Mikro-Welle des Patriotismus“ habe Deutschland erfasst, schreibt der „Stern“ im Sommer 2006: Die Deutschen, heißt es, gehen auf einmal zwanglos mit ihren Nationalsymbolen um, und allein die Tatsache, dass dies kaum noch jemanden erschrecke, erschrecke einige. 

Zum Beispiel die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“, GEW. Die lässt kurz vor der WM eine 17 Jahre alte Handreichung zum Geschichtsunterricht nachdrucken: „Argumente gegen das Deutschlandlied - Geschichte und Gegenwart eines furchtbaren Lobliedes auf die deutsche Nation“, so der Titel. Die Gewerkschaft arbeitet sich darin nicht nur, aber vor allem an der ersten Strophe des Liedes ab: „Deutschland, Deutschland über alles“. Die Broschüre des GEW stammt aus den späten 1980er Jahren. Damals galten in der alten Bundesrepublik formell alle drei Strophen des Deutschlandliedes noch als Hymne, allerdings wurde bei offiziellen politischen und sportlichen Anlässen nur die dritte Strophe gesungen. Die erste Strophe war aber nicht vergessen, im Gegenteil: sie sorgte immer wieder für Diskussionen. Die Veröffentlichung des GEW hatte also ihren Platz im Debattenumfeld der alten Bundesrepublik. Im Jahr 2006 wirkte sie etwas aus der Zeit gefallen. Denn in den Stadien der Fußball-WM war die erste Strophe nicht zu hören. „Deutschland, Deutschland über alles“ war Geschichte und seit August 1991 nicht mehr Teil der Nationalhymne des nun wiedervereinigten Deutschland, weder offiziell noch inoffiziell. 

kurzer Musikakzent

Erzählerin 

Nach 1990 hatte sich die Frage gestellt, welches Lied Deutschland zu seiner Nationalhymne bestimmen sollte. Die Frage war, ohne größeren Widerspruch, bald entschieden: durch einen Brief des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker an Bundeskanzler Kohl im August 1991.  

Zitator: 

Die 3. Strophe ... hat sich als Symbol bewährt. Sie wird im In- und Ausland gespielt, gesungen und geachtet. Sie bringt die Werte verbindlich zum Ausdruck, denen wir uns als Deutsche, als Europäer und als Teil der Völkergemeinschaft verpflichtet fühlen. Die 3. Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn ist die Nationalhymne für das deutsche Volk. 

Erzählerin

In seinem Antwortschreiben bekräftigte Helmut Kohl diese Auffassung. Damit war die Hymnenfrage entschieden - und ist es bis heute. Von Weizsäcker hatte das Datum seines Schreibens mit Bedacht gewählt: fast auf den Tag genau 150 Jahre zuvor hatte der Dichter Heinrich Hoffmann von Fallersleben das Deutschlandlied geschrieben, während eines Urlaubs auf der damals zu England gehörenden Insel Helgoland. 

Zsp 3, Jörg Koch 

Und dort hat er erlebt, wie Gäste aus Frankreich mit der französischen Hymne und Gäste aus England mit „God save the Queen“ begrüßt wurden. 

Englische Hymne

Erzählerin

So der Wormser Historiker Jörg Koch, Autor eines Buches über die Geschichte der deutschen Nationalhymne. 

Zsp 3 (Forts.)

Da kamen ihm diese Gedanken und verfasste dann das uns bekannte dreistrophige Lied der Deutschen: „Deutschland, Deutschland über alles“. Damit ist natürlich gemeint nicht ein überheblicher Anspruch Deutschlands gegenüber anderen Ländern, sondern ein Deutschland gegenüber den vielen kleinen Deutsch-Ländern, die Überwindung der Kleinstaaterei fordert er in seinem Lied.

Erzählerin

Hoffmann von Fallersleben war Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Breslau. Um von Breslau nach Helgoland zu reisen, musste er als Bewohner des „Deutschen Bundes“ 700 Kilometer zurücklegen, zu Fuß, mit der Kutsche, teilweise mit dem Zug, zuletzt mit dem Schiff. Das dauerte. Auch deshalb, weil viele, meist autoritär regierte Kleinstaaten zu durchqueren waren, in denen unterschiedliche Regeln galten. 

Zsp 4 Jörg Koch

Der Deutsche Bund ... bestand aus 35 souveränen Staaten und vier freien Städten, ... also ein sehr heterogenes Gebilde ... und Hoffmann reiste sehr viel. ... Immer wenn er reiste durch Deutschland, passierte er Grenzen. ... und überall musste der Pass vorgezeigt werden an jeder Grenze.

Erzählerin

Hoffmanns Gedicht – gerade auch die erste Strophe „Deutschland, Deutschland über alles“ - war also zunächst nach innen gerichtet, als Aufruf an die Deutschen zur Einigkeit, für politische Freiheitsrechte und gegen kleinstaatliche Fürstenwillkür. Zum historischen Hintergrund gehört allerdings auch die außenpolitische Situation, wie Jörg Koch erläutert. 

Zsp 5 Jörg Koch

1840 kam es zur sogenannten Rhein-Krise, das heißt: Frankreich hatte ja vorher und auch später in der Geschichte immer das Bestreben, den Rhein als natürliche Grenze seines Landes im Osten zu haben.. Und jetzt reagieren einige Dichter, Politiker hier in den deutschen Landen mit sogenannten Rheinliedern, das bekannteste Lied, 1840 gedichtet von Max Schneckenburger, ist die „Wacht am Rhein“, und in dieser Stimmung entsteht natürlich auch das Deutschlandlied ... Es erhebt zwei Forderungen, einmal Überwindung der Kleinstaaterei und dann natürlich die Abgrenzung zu Frankreich.

Erzählerin

Hoffmann hat sein „Deutschlandlied“ von Anfang an als Hymne verstanden und es dezidiert auf eine Melodie gedichtet, die Joseph Haydn 1796 komponiert hat: als Trost- und Stärkungslied angesichts französischen Revolutionstruppen, die Wien bedrohten, und als Huldigungslied zu Ehren von Franz II., dem letzten Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“.  

„Gott erhalte Franz den Kaiser“ einblenden oder unterlegen, Archiv-Nr. 88038540 101

Erzählerin

Diese Kaiserhymne - „Gott erhalte Franz den Kaiser“ - wird später österreichische Nationalhymne und bleibt es bis 1918. Im Gegensatz zu dieser Huldigung an einen absolutistischen Herrscher wirkt Hoffmanns Text eher volkstümlich, geradezu volksliedhaft. 

Zitator

Deutsche Frauen, deutsche Treue,

Deutscher Wein und deutscher Sang

Sollen in der Welt behalten

Ihren alten schönen Klang,

Uns zu edler Tat begeistern

Unser ganzes Leben lang –

Zsp 7, Jörg Koch

Ja, das ist natürlich auch die Erfolgsgeschichte dieses Liedes, eine sehr eingängige, einfache Textstruktur, mit einigen Stilmitteln, Alliterationen, Wiederholungen, das kann sich jedes Kind leicht merken 

Erzählerin

Hoffmanns Lied wird bereits wenige Tage nach seiner Entstehung durch Julius Campe in Umlauf gebracht, jenen Verleger, der auch die Werke anderer Freiheitsdichter wie Heinrich Heine und Ludwig Börne publiziert. Das Deutschlandlied erscheint im Umfeld des sogenannten „Vormärz“, einer Bewegung, die eine Einigung Deutschlands unter liberalen, republikanischen Vorzeichen anstrebt. Wenige Wochen nach der Entstehung 1841 wird das „Lied der Deutschen“ bereits erstmals öffentlich aufgeführt. Es erscheint in den folgenden Jahrzehnten in vielen studentischen Liederbüchern, in Sammlungen für Chöre und den musikalischen Hausgebrauch, bleibt aber zunächst ein patriotisches Lied unter vielen. Daran ändert sich zunächst auch nach der Reichsgründung 1871 nichts.

„Heil dir im Siegerkranz“ ab hier dem Text unterlegen, 88038540 103 oder instrumental

Das Deutsche Reich ist nun zwar ein Nationalstaat mit Berlin als Hauptstadt, einer Reichsflagge und Kaiser Wilhelm I. als Staatsoberhaupt. Aber bei der Proklamation des neuen Staates im Spiegelsaal von Versailles erklingt nicht das Deutschlandlied, sondern die preußische Hymne „Heil dir im Siegerkranz“, das von nun an als „Kaiserhymne“ bei offiziellen Anlässen gesungen wird, auf die Melodie der englischen Nationalhymne „God save the King“. 

Zsp 8, Jörg Koch

Hoffmann von Fallersleben hat sehr bedauert, dass sein Lied 1871 nicht zur Nationalhymne wurde. Da ist er enttäuscht, tatsächlich sehr enttäuscht, er meinte, jetzt sei doch die Stunde gekommen, dass das „Lied der Deutschen“ für alle Deutschen Nationalhymne werde. Das hat sich nicht erfüllt. Er hat den Erfolg, den großen Erfolg seines Liedes nicht mehr erlebt.

Erzählerin

Hoffmanns Lied auf Haydns Melodie hat für eine Nationalhymne gleich mehrere Makel: musikalisch betrachtet, ist es alles andere als schneidig-stramm. Sein Text ist zudem nicht kriegerisch, stachelt nicht zum Opfertod an. Und: das Lied besingt keinen Regenten. Dennoch gerät es während des Kaiserreiches immer stärker in den Bann des Militärischen. Bei der Einweihung von Kriegerdenkmälern und an sogenannten Heldengedenktagen ist es schon bald nicht mehr wegzudenken. „Deutschland, Deutschland über alles“ bekommt nun einen anderen Klang als noch zu Hoffmanns Zeiten.  

Zsp 10 Jörg Koch

Jetzt schon beginnt lange nach Hoffmanns Tod 1874 die Vereinnahmung des Liedes, insbesondere der ersten Strophe, ja jetzt mit einer ganzen anderen Intention: Deutschland, Deutschland siegt über andere Länder! 

Erzählerin

Eine kriegerische Aura erhält das Lied dann endgültig im Ersten Weltkrieg, in dem es mit dem sogenannten Langemarck-Mythos verknüpft wird. In einem offiziellen Bericht der Obersten Heeresleitung zu den Kämpfen in Flandern im November 1914 heißt es: 

Zitator

Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie ein. Etwa 2000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangengenommen und sechs Maschinengewehre erbeutet.

Erzählerin

Was der Langemarck-Mythos verschweigt: die Schlachten in Belgien 1914 und 1915 sind für das deutsche Heer ein Fiasko. Was bleibt, ist der Mythos vom opferbereiten Kampf, der sich fortan mit dem Deutschlandlied verbindet und später im Nationalsozialismus wieder auflebt. Das Lied gilt nach dem Krieg als belastet, erlebt aber dennoch in den ersten Jahren der Weimarer Republik eine Renaissance. 

Zsp 11 Jörg Koch

Schon 1920 beginnen erste Überlegungen einer Nationalhymne. Ganz klar, Ende 1918, Ende der Monarchie, da hatte man an nationale Symbole natürlich nicht gedacht. Dann kommt aber tatsächlich schon bald die Frage aus dem Ausland, aus England. Welche Hymne habt ihr denn? Denn Hymnen, das sieht man daran, waren notwendig bei Staatsbesuchen, etwa. Da hat sich bis heute nichts geändert. 

Erzählerin

Die Regierung lässt das Deutschlandlied 1920 prüfen, ob es als Hymne eines demokratischen Deutschland in Frage kommt. In einer Kabinettsvorlage sammelt sie Argumente pro und contra. Am 11. August 1922 schließlich wird der Verfassungstag gefeiert, eine Art inoffizieller Nationalfeiertag der Weimarer Republik. Er wird unter das Motto gestellt: „Einigkeit und Recht und Freiheit.“ Gastgeber ist Reichspräsident Friedrich Ebert. 

Zsp 12 Jörg Koch 

Auf Drängen seiner Umgebung, verschiedener politischer Richtungen, proklamiert Ebert dann, ausgerechnet ein SPD-Politiker, die drei Strophen zur Nationalhymne, weil ihm dieser Dreiklang „Einigkeit und Recht und Freiheit“ so wichtig ist. Er will Versöhnung schaffen zwischen den Konservativen und den Linken ... 

Erzählerin

Schon in der Weimarer Republik erkannte man also – wie später in der Bundesrepublik – einen Gegensatz zwischen der ersten und der dritten Strophe: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“, das klang nach dem verlorenen Weltkrieg nach nationalistischer Anmaßung. Dennoch hielt der SPD-Politiker Friedrich Ebert formell an allen drei Strophen fest. Warum? 

Zsp 13 Jörg Koch 

Denn die Zeiten sind natürlich zwei Jahre nach Erlass das Versailler Vertrags sehr unsicher. Es kommt zu politischen Morden, die Weimarer Republik ist politisch und wirtschaftlich sehr instabil, und jetzt soll ein Lied zumindest eine gewisse Einheit parteiübergreifend schaffen. Das war seine Absicht. 

Erzählerin

In der offiziellen Praxis scheint sich der Akzent während dieser Jahre auf die dritte Strophe zu verschieben. Ausschließlich sie wird gesungen auf dem Verfassungstag 1922, ebenso in den Jahren darauf bei den Trauerfeiern für Präsident Ebert und Außenminister Stresemann: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ wird mehr und mehr zum Motto der Weimarer Republik. Ein Prozess, der 1933 abrupt endet: 

Erzählerin

Am 30. Januar wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Am selben Abend ziehen SA-Kolonnen durch Berlin. Sie singen die erste Strophe des Deutschlandliedes, anschließend das Marsch- und Kampflied von Horst Wessel. Horst Wessel, ein junger SA-Führer, war 1930 von einem KPD-Mitglied in Berlin erschossen worden und galt als ein Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“, so sein Text. Deutschlandlied und Wessel-Lied werden zu Siegeshymnen des Nationalsozialismus. Bis 1945 erklingen sie bei allen offiziellen Anlässen, bei Parteitagen, Gedenkfeiern, Amtseinführungen, beim Stapellauf von Schiffen, bei der Einweihung von Konzentrationslagern. Die Reihenfolge ist festgelegt: 

Zsp 14 Jörg Koch

Erst mal „Deutschland, Deutschland über alles“, ... jetzt natürlich mit dem Anspruch: Hitler-Deutschland regiert über die Welt ... Und dann ertönt im Marschrhythmus ja was völlig anderes. Ein Riesengegensatz, dieses SA Kampflied „Die Fahne hoch“, das sogenannte Horst-Wessel-Lied, wobei die erste und vierte Strophe identisch sind. Beim Absingen gerade dieser Strophen musste auch der Hitlergruß gezeigt werden.

Erzählerin

So der Historiker Jörg Koch. Auch wenn in NS-Lieder- und Schulbüchern das Deutschlandlied in der Regel dreistrophig abgedruckt wird, scheinen die nationalsozialistischen Politiker und Verbände in der Praxis nur an der ersten Strophe interessiert zu sein: „Deutschland, Deutschland über alles“, das war in ihrem Sinne; „Einigkeit und Recht und Freiheit“ weniger. Allerdings gibt es Aufnahmen von NS-Chören aus den ersten Jahren der Diktatur, auf denen alle drei Strophen des Liedes zu hören sind, ebenso auf Schallplatten, die für den internationalen Markt produziert werden. Vollkommen „unschuldig“ mag also die dritte Strophe des Deutschlandliedes, unsere heutige Nationalhymne, nicht sein. Allerdings scheint sie in der Zeit des „Dritten Reiches“ und auch in den ersten Jahren nach dem Krieg weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein, so dass Politiker der jungen Bundesrepublik, die sie bei Wahlkampfveranstaltungen singen lassen wollen, ihren Text vorsichtshalber auf ausgelegte Blätter drucken lassen. Die Marginalisierung während der Nazijahre verschafft der dritten Strophe um 1950 jedenfalls eine neue, letzte Chance als Nationalhymne. 

Zsp 15 Jörg Koch

Als der Bundestag sich zunächst traf zur konstituierenden Sitzung oder auch als der Bundespräsident gewählt wurde, das sind ja auch wie heute Anlässe mit feierlicher Musik... man wich auf Werke von Beethoven vor allem aus. Aber Beethoven und sportliche Ereignisse, das passt auch nicht. Und da wurden vielfach im Rheinland Karnevalsschlager gespielt und gesungen. Und der Überlieferung nach soll 1952 Adenauer in Chicago mit „Heidewitzka Herr Kapitän“ begrüßt worden sein.

„Heidewitzka“ 

Erzählerin

Bundeskanzler Konrad Adenauer, der ein Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung hat, lässt eine Umfrage in Auftrag geben, um herauszufinden, wie die Westdeutschen in der Hymnenfrage denken. Das Ergebnis ist eindeutig: 73 Prozent wollen das Deutschlandlied, auch unter SPD-Anhängern stimmen zwei Drittel dafür. 

Zsp 16 Clemens Escher 

Ja, es war für die Menschen ein Bedürfnis, eine Hymne zu haben. 

Erzählerin

Sagt der Historiker Clemens Escher, der ein Buch über die Hymnenfrage in den ersten Jahren der Bundesrepublik geschrieben hat. 

Zsp 16 Forts. Clemens Escher 

Es gab ja viele Radioübertragung ... Und es gab dann - nach Sportveranstaltungen etwa - eben nicht den feierlichen Abschluss. Und in dieses hymnenlose Zeitfenster haben dann die Bundesbürger selbst an Adenauer und Heuss Hymnenvorschläge geschrieben. Keiner von diesen Vorschlägen hatte schließlich eine Chance, genommen zu werden, und in einem doch sehr langen, schmerzhaften Prozess – wurde dann schließlich, wie es Heuss formulierte, aus Traditionalismus und Beharrungsverlangen der Bundesdeutschen in einem Briefwechsel zwischen Adenauer und Heuss die dritte Strophe festgelegt als Nationalhymne, ohne dass diese im Grundgesetz etwa ist.

Erzählerin

So Escher 2022 in der Bayern2-Radiowelt im Gespräch mit Moderator Rolf Büllmann. Im Mai 1952 ist es dann so weit: das Deutschlandlied wird wieder zur Nationalhymne erklärt. Gesungen werden soll bei offiziellen Anlässen aber ausschließlich die dritte Strophe. Dabei bleibt es bis 1991. Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Kanzler Helmut Kohl 1991 „Einigkeit und Recht und Freiheit“ zur Hymne des wiedervereinigten Deutschland erklären, sind die beiden anderen Strophen des Deutschlandliedes Geschichte. Das gilt auch für die Hymne der DDR, der der Historiker Jörg Koch durchaus etwas abgewinnen kann. 

Zsp 18 Jörg Koch 

Lothar de Maiziere etwa, der letzte Ministerpräsident der DDR, hatte vorgeschlagen, die erste Strophe der DDR-Hymne, ... „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“, zu kombinieren mit der dritten Strophe des Deutschlandliedes. Es ist schade. Also ich finde inhaltlich und was die Melodie anbelangt, die Hymne der DDR auch erhaltenswert ... Inhaltlich, lässt sich gut singen, natürlich auch auf die Melodie von Haydn.

Erzählerin

Hätte man also 1990 nicht die Chance nutzen und eine neue gemeinsame Hymne für das vereinigte Deutschland schaffen sollen? Clemens Escher: 

Zsp 19 Clemens Escher, Archiv: 

Diese Diskussion gab es, es war aber schon damals eigentlich eine Diskussion, die vor allem im Feuilleton geführt worden ist. Also eine, wenn man so will, intellektuelle Wolkenschieberei. Wolf Biermann machte sich damals stark für die Kinderhymne von Bertolt Brecht, andere taten es ihm gleich. Also, es gab diese Diskussion, aber es war nicht wirklich eine Massenbewegung. Insofern gab es diese Bewegung von unten für eine neue Hymne nicht. Und „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sind ja auch Begriffe, unter denen man sich sehr gut nach 1990 versammeln konnte.


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